Der brandgefährliche russische Energiekrieg gegen die Ukraine:

Autor*innenpapier Astrid Schneider, Karl-W. Koch, Stand 13.01.2023

Sorge um ukrainische Atomkraftwerke
und die Welternährungssicherheit

Die Lage in der Ukraine eskaliert seit dem 24. Februar 2022 laufend weiter – statt Friedensaussichten drohen die nächsten Eskalationsstufen des Krieges einzutreten – mit unabsehbaren Folgen für Menschen, Natur und Lebensgrundlagen in der gesamten Ukraine und darüber hinaus in den angrenzenden Nachbarländern.

Der russische Angriffskrieg ist aufs schärfste zu verurteilen und fügt der Ukraine unendliches Leid zu. Die neue Strategie Russlands, gezielt die Energieinfrastruktur anzugreifen und einen „Energiekrieg“ zu führen, ist brand-gefährlich. Das Papier möchte beschreiben, welchen nuklearen Risiken insbesondere die Ukraine – aber auch ganz Europa – dadurch ausgesetzt sind und welches Gefahrenpotential eine Eskalation des Konfliktes hätte.

Kriegsbeginn: russischer Einmarsch, als die Ukraine im „Inselbetrieb“ war

Der russische Einmarsch erfolgte, als die Ukraine in einem energietechnischen Ausnahmezustand war: am 24. Februar 2022 befand sich die Ukraine seit fünf Stunden im so genannten „Inselbetrieb“, das bedeutet, dass das gesamte ukrainische Elektrizitätsnetzwerk vollständig getrennt war von denen aller umliegenden Staaten.

Hintergrund: bereits 2010 trat die Ukraine der europäischen „Energy Community“ bei, welche das Ziel hat Nachbarländer am EU-internen Energiemarkt teilhaben zu lassen. Das Elektrizitätsnetz der Ukraine war bis zum 23. Februar 2022 mit dem Russlands verbunden und synchronisiert, welches eine andere Frequenz hat, als das EU-Netz. Um mit der EU Stromhandel betreiben zu können, sollte die Ukraine „umgeswitcht“ werden auf die EU. Dafür ist es erforderlich, sich zunächst komplett zu isolieren, um dann den Frequenzwechsel vorzunehmen und erst dann den neuen Anschluss zu vollziehen. Der Inselbetrieb am 24. Februar sollte nur ein Test dafür sein. Wenige Stunden nachdem der Test begonnen wurde, griff Russland die Ukraine an.

Der Energiekrieg: Russlands Attacken auf  die Energieinfrastruktur in der Ukraine

Abbildung 1: Attacken auf die ukrainische Energieinfrastruktur – Source: DTEK – https://dtek.com/en/media-center/

Seit dem 10. Oktober greift Russland in Wellen gezielt die zivile Infrastruktur der Ukraine (Stromleitungen, Umspannwerke, Kraftwerke, Wasserversorgung) im gesamten Staatsgebiet an – nicht nur an den Frontlinien.

Bereits im Dez. 2022 gibt DTEK an, dass 40% der Energieinfrastruktur der Ukraine beschädigt sind. Ein Ausfall des Höchstspannungsnetzes würde unmittelbar die nukleare Sicherheit der AKW in der Ukraine gefährden.

Das Augenmerk dieses Papieres gilt den Folgen des Angriffs auf das Elektrizitätsnetz der Ukraine.

  • Der Angriff vom 23. November 2022 mit mehr als 70 Cruise Missiles traf ein thermisches Kraftwerk sowie Umspannwerke und hatte zur Folge, dass alle Atomkraftwerke der Ukraine durch Spannungsschwankungen im Höchstspannungsnetz vom Netz getrennt wurden. Das AKW Saporishja ging in den vollen „Blackout-Mode“, bei welchem der Kühlbetrieb – ohne äußere Stromversorgung – nur noch über Diesel-Generatoren aufrecht erhalten werden konnte.[1]
  • Der Angriff vom 16. Dezember 2022 hatte zur Folge, dass alle konventionellen thermischen Kraftwerke des Betreibers DTEK sowie ein AKW vom Stromnetz getrennt wurden, und die restlichen in der Leistung gedrosselt werden mussten.[2]

Zu Beginn war die Ukraine noch in der Lage, zeitnah Reparaturen vorzunehmen und die Versorgung mit Strom und Wasser immer wieder herzustellen, dies ist jedoch schon lange nicht mehr in allen Teilen des Landes möglich, etliche sind derzeit ganz ohne Elektrizität.[3]

Zentrale Rolle des Höchstspannungsnetzes zur Stromversorgung und Sicherheit der Atomkraftwerke

Abbildung 2: Source: ENTSO-E – https://www.entsoe.eu/data/map/downloads/

Im  Gegensatz zu Zentraleuropa hat die Ukraine als relativ dünn besiedeltes Flächenland ein weitaus weniger engmaschiges Netz an Kraftwerken. Diese sind durch ein weitgestrecktes Höchstspannungsnetz von 750 kV (blaue Linien) überregional in Kreisen verknüpft. Die doppelte Spannung verglichen zu Deutschland vermindert Verluste über die Strecke aber erfordert zusätzliche große Umspannwerke von 750 kV auf 330 kV und darunter liegende Hochspannungsebenen wie 110 kV, welche zu den Verbrauchszentren führen.

Die flächendeckende Energieversorgung der Ukraine hängt von der Funktionalität des Hochspannungsnetzes (750 kV / 330 kV) ab. An dieses sind alle großen AKW, Kohle- und Wasserkraftwerke angeschlossen.

Gezielte Attacken auf die Umspannwerke als Knotenpunkte des Netzes

Abbildung 3: Orange Punkte: Standorte von Atomkraftwerken – blau: 750 kV Hochspannungsnetz (nicht hervorgehoben orange: 330 kV-Hochspannungsnetz) – Soure: ENTSO-E – https://www.entsoe.eu/data/map/downloads/ – eigene Hervorhebung orange: Standorte AKW inklusive Tschernobyl im Norden (stillgelegt aber mit bestehendem Kühlbedarf)

Die Knotenpunkte, mit denen die verschiedenen Netzebenen verbunden sind, bestehen aus großen Umspannwerken mit Transformatoren (Umwandlung der unterschiedlichen Spannungen zueinander). Diesen kritischsten Punkt, die Knotenpunkte der Energieinfrastruktur greift Russland ständig an. Fällt die Spannung durch Angriffe und Ausfälle von Kraftwerken und Netzabschnitten plötzlich ab, trennen sich automatisch weitere Kraftwerke vom Netz. Zusätzliche werden auch die Kraftwerke selbst bombardiert.

Wenn die Atomkraftwerke nicht mehr mit dem Hochspannungsnetz verbunden sind, müssen sie notabgeschaltet werden und können weder Strom einspeisen noch aus dem Stromnetz mit Elektrizität zum Kühlen versorgt werden. Fällt die externe Stromversorgung der AKW aus, können sie nur noch über dieselbefeuerte Notstromgeneratoren Strom erzeugen und gekühlt werden.

Ständige erneute gezielte Zerstörungen
– lange Bauzeiten

Um Reparaturen und Ersatz zerstörter Umspannwerke zu erschweren haben die Russen kürzlich auch eine ukrainische Transformatorenfabrik sowie die dort noch gelagerten Transformatoren und Ersatzteile zerstört.

Die westlichen Verbündeten haben maßgebliche Programme zur finanziellen und technischen Unterstützung gestartet und helfen umfangreich. Ein rascher vollumfänglicher Ersatz der Umspannwerke im Höchstspannungsnetz oder großer Kraftwerke ist jedoch auch aus dem Westen nicht einfach möglich. Der Neubau einer Transformatorstation im Höchstspannungsnetz dauert ca. ein Jahr. „Die Vorlaufzeit bei der Produktion großer Geräte beträgt mindestens ein Jahr“, sagt der Infrastrukturspezialist Davor Bajs von der internationalen Organisation Energy Community in Wien. Auch wenn sehr viele Raketen und Drohnen abgefangen werden, reichen einzelne gezielte Treffer aus, um die Umspannwerke zu zerstören. Sind die Verluste zu weitgehend, droht der Zusammenbruch des gesamten Stromsystems. Bürgermeister Klitschko in Kiew: „Wir standen bereits mehrfach am Rande eines Blackouts!“[4]

GAU-Risiko der ukrainischen AKW und Atomanlagen durch Ausfall des Hochspannungsnetzes

Die Atomanlagen der Ukraine können in fünf Kategorien eingeordnet werden:

  • Laufende stromproduzierende Atomkraftwerke (AKW): AKW Rhivne, AKW Südukraine, AKW Chmelnyzkyj
  • Momentan temporär abgeschaltet: AKW Saporischja
  • Endgültig abgeschaltetes AKW: Tschernobyl
  • Brennstababklingbecken an allen Standorten
  • Kohlemine „Yunkom-Mine“ (Ort sowjetischer Atomexplosion 1979[5])

Eine ständige externe Stromversorgung ist für die Sicherheit aller Atomanlagen essentiell erforderlich – und normalerweise in redundanter Ausführung vorhanden, in der Ukraine normalerweise sogar durch multiple Leitungen aus dem 750 kV sowie dem 330 kV-System.

Ein Zusammenbruch des doppelt  gespannten (750 kV / 330 kV) Hochspannungssystems der Ukraine hätte zur Folge, dass alle Atomanlagen nur noch durch Notstrom-Dieselgeneratoren mit Elektrizität versorgt werden können.

Sofern nicht „nur“ die Leitungen, sondern auch massiv die Umspannwerke zerstört sind, kann es Monate oder Jahre dauern, das System wieder funktionsfähig zu bekommen.

Zeiten bis zum GAU
der verschiedenen Atomanlagen der Ukraine:

  • Laufende AKW: Petro Kotin, der Präsident von „Energoatom“, der Betreibergesellschaft für die ukrainischen Atomkraftwerke in der Ukraine gibt die Zeitdauer des damals noch laufenden ukrainischen AKW Zaporitscha bei Komplettausfall jeglicher Stromversorgung bis zur Kernschmelze mit anderthalb bis drei Stunden an[6].
  • Erst seit kurzem abgeschaltetes AKW Saporishja: 3 Tage
  • AKW Tschernobyl und Abklingbecken mit Brennstäben an allen Standorten: bedürfen einer ständigen Fluktuation des Kühlwassers über Jahre hinweg, GAU-Zeit nicht exakt bekannt (zu untersuchen)
  • Kohlemine „Yunkom-Mine“: Aufgrund der Strommangellage haben die russischen Besatzer bei der im besetzten Donbass befindlichen „Yunkom-Mine“ die Wasserpumpen bereits abgestellt. In der verlassenen Kohlemine wurde von den Sowjets 1979 eine unterirdische Atombombe gezündet, welche in ca. 900 m Tiefe eine Blase von 30 Meter Durchmesser mit radioaktivem Material hinterließ[7]. Die Mine wurde von den russischen Besatzern geflutet und das radioaktiv kontaminierte Wasser droht den Dnepr sowie folgend das schwarze Meer zu verseuchen. Der Umweltgau ist möglicherweise bereits „ongoing“. Ob die Blase bereits geplatzt ist, ist nicht bekannt (zu untersuchen).

Notstromversorgung der Atomanlagen mit Dieselgeneratoren

Die Situation der Notwendigkeit der Notstromversorgung der AKW wegen Netztrennung ist bereits mehrfach eingetreten. An den AKW-Standorten wird Diesel für 10 Tage vorgehalten. Problemstellung: da sich der Diesel rasch verbraucht, müsste ständig gesichert Diesel ständig nachgeliefert werden. Ist das in einem Kriegsgebiet möglich? Sind die Straßen und Brücken intakt? Sind die Gegenden vermint? Ist es möglich Kolonnen von Tanklastwagen täglich sicher durch ein Kriegsgebiet zu fahren? Werden die Russen Tanklastwagen fahren lassen, ohne sie anzugreifen? Allein die Dieselgeneratoren das AKW Saporishja verbrauchten laut Petro Kotin dem Chef von Energoatom (siehe Interview) 200 Tonnen Treibstoff pro Tag – das entspricht vier großen Tanklastwagen.

Ziele der Angriffe?

Offenkundig hat Russland mit den Attacken gegen die Energieinfrastruktur vor, auch auf die West-Synchronisierung der Ukraine auf seine Weise zynisch zu reagieren, die Lebensadern der Ukraine zu kappen, den Nachschub an die Front zu behindern, die Kommunikation und die Industrieproduktion  einzuschränken, sowie die Bevölkerung zu demoralisieren und in die Flucht treiben. Doch angesichts der atomaren Gefahrenlage, welche die – bislang nur temporäre – Trennung der Atomkraftwerke vom Stromnetz bedeutet, stellt sich die Frage, welche weiteren Ziele Russland mit der Strategie der gezielten langanhaltenden Zerstörung der Energieinfrastruktur verfolgt? Nahezu undenkbar erscheint es, dass Putin einen Gau der ukrainischen AKW sowie der Zwischenlager bewusst herbeiführen will. Da die Angriffe aber sehr gezielt genau in diese Richtung laufen, muss hinterfragt werden, was die tatsächlichen Ziele Putins sind. Auch ein „worst case szenario“ muss betrachtet werden, da es fast unmöglich ist – und bisher auch nicht erfolgreich umgesetzt werden konnte – alleine nur die lebensnotwendigen Netzknotenpunkte so ausreichend zu schützen, dass ihre Funktionalität gewahrt bleibt. Stattdessen sind bereits über 40 % des Elektrizitätssystems zerstört. Auch die Einrichtung einer UN-Sicherheitszone rund um das AKW Saporishja – wie sie von der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEA) der United Nations gefordert wird – sind bislang gescheitert.

Nukleare Katastrophe als Folge der Angriffe?

Petro Kotin, der Präsident von „Energoatom“, der Betreibergesellschaft für die ukrainischen Atomkraftwerke in der Ukraine, kommentiert die aktuelle Situation am 23. November 2022 so: “These criminal actions of Putin and his accomplices, which are pushing humanity to the brink of a nuclear catastrophe, cannot be called otherwise than blackmail of the whole world. Russia must answer for this shameful crime. Additional tough sanctions should be immediately imposed on the state – sponsor of terrorism, in particular, on Rosatom and its affiliated structures, which are an integral part of the Russian criminal power. The international community can stop the criminal war unleashed by the kremlin and the threat of nuclear armageddon just by dramatically increasing the pressure on the bloody aggressor and further isolating him politically, economically, financially, etc., as well as by continuing to provide Ukraine with all the necessary weapons.”[8] (Übersetzung [9])

Überfüllte Abklingbecken und verschobene Sicherheitsupdates in der Ukraine

Gefördert auch von Mitteln der Europäischen Bank for Reconstruction and Devlopment  (EBRD) lief in der Ukraine zu Kriegsausbruch ein Programm „Complex Consolidated Safety Upgrade Program (CCSUP)“, welches ursprünglich 2017 abgeschlossen sein sollte, dessen Abschluss aber u.a. aufgrund von Kriegshandlungen und Covid auf 2023 verlängert wurde. In diesem Rahmen wurde eine „Spent fuel facility“ auf dem Tschernobyl-Gelände gebaut, welche im April 2022 in Betrieb genommen werden sollte – aufgrund des laufenden Krieges wird eine Verlagerung hoch radioaktiven Materials dorthin noch nicht stattgefunden haben, während die Abklingbecken an den Reaktorstandorten überfüllt sind. Weitere Punkte waren Retrofits alles AKW sowie eine Überprüfung und Instandsetzung der Notstrom-Dieselgeneratoren am Saporishja AKW.

Kampf um das AKW Saporishja

Das AKW Saporishja ist mit sechs Reaktoren das größte Europas und steht seit Monaten im Brennpunkt der öffentlichen Wahrnehmung. Bereits in den ersten Kriegstagen, am 4. März 2022 wurde das AKW von den russischen Besatzern okkupiert[10]. In der Folge versuchten die russischen Besatzer das AKW an das russische Stromnetz anzuschließen, um die Krim damit mit Elektrizität zu versorgen. Das versuchte die Ukraine zu verhindern. In der Folge wurde wechselseitig versucht, die Stromableitungen zur anderen Seite zu verhindern. Das Atomkraftwerk liegt zudem an einer strategisch extrem bedeutsamen geographischen Stelle direkt am Dnjepr, nördlich der Krim zwischen den Kriegsschauplätzen Mariopol im Osten und Mykolajiw im Westen.

Eine Rückeroberung der Krim wird unweigerlich das Atomkraftwerk Saporischja zur aktiven Kampfzone machen. Wie die Sicherheit des AKW während der Kampfhandlungen gewährleistet werden könnte, ist unklar.

Brisante Sicherheitslage am AKW Saporischschja

Abbildung 4: IAEA Director General, Rafael Mariano Grossi and Lydie Evrard explaining, that the AKW Saporishja does not meet the seven indispensable pillars of safety on September 2nd 2022 – Source: IAEA [11]

Trotz intensiver Bemühungen der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) ist es bisher NICHT gelungen, die Sicherheitslage zu verbessern. Im Gegenteil werden immer mehr Anlagen zerstört. Das AKW Saporishja ist russisch besetzt und wird – trotz der Anwesenheit von Inspektoren der IAEA[12] – häufig beschossen.[13] Granaten und andere Geschosse könnten  bei geringem Verfehlen ihrer Ziele leicht zu Katastrophen führen. In Saporishja wurden bereits mehrfach Dieselaggregaten eingesetzt [14], um die Reaktoren zu kühlen. Es ist niemand anderes als die Internationale Atomenergie Agentur (IAEA), die unermüdlich diesen Zustand als unhaltbar darstellt und seit Monaten vor katastrophalen Folgen warnt. Alle Blöcke sind derzeit abgeschaltet.

Die Lage am AKW Saporischja gemäß Darstellung der IAEA vom 6./7.1.2023 [15]:

  • Von ursprünglich sechs 330 kV-Leitungen zur externen Stromversorgung des AKW sind fünf zerstört
  • Die letzte 330 kV-Backup-Leitung, die Ferosplavne-line wurde am 29. Dez. 2022 durch Beschuss beschädigt[16] und unterbrochen, die Reparaturarbeiten wurden am 6. Januar abgeschlossen
  • Die letzte funktionierende 750 kV-Leitung ist die einzige reguläre externe Verbindung zum Stromnetz

  

Abbildung 5: ENTSO-E – Elektrizitätsnetzplan Continental Europe[17]www.entsoe-eu – blaue Linien: 750 kV / orange: 330 kV-Leitungen

Sicherheitsrelevante Vorfälle am AKW Saporischschja

  

Abbildung 6: Loch im Dach  des Brennstofflagers des AKW Saporishja – rechts: Russisches Militärfahrzeug in der AKW-Turbinenhalle Block 2 des AKW Saporishja – Source: IAEA, aus: IAEA – NUCLEAR SAFETY, SECURITY AND SAFEGUARDS IN UKRAINE, 2nd Summary Report by the Director General, 28. April – 5 September 2022

Die Internationale Atomenergieagentur IAEA listet[18] zahlreiche sicherheitsrelevante Vorfälle auf.

  • Beschuss des AKW – Loch im Dach des Gebäudes für frische Brennstäbe
  • Unterbringung von Militärfahrzeugen in der Turbinenhalle des Block 2 des AKW Saporishja
  • Zerstörung der Feuerwehrwache auf dem AKW-Gelände – längere Anfahrt aus Energodar erforderlich
  • Zerstörung von externen Stromleitungen und Zerstörung von Umspannwerken auf dem Gelände und außerhalb welche Zuleitungen ermöglichen:
    • August: Beschuss, Explosionen nahe der Verbindungsstelle zu einer externen 750 kV-Trasse, resultierend in einem Emergency shutdown und Anspringen der Notstromdiesel
    • August: 750 kV-Verbindung zur Kakhovska-Trasse beschossen
    • August: Transformatoren des nahegelegenen Kohlekraftwerkes beschädigt, mit der Folge der Zerstörung der Verbindung zum AKW, die später wieder hergestellt wurde
    • August: nur noch eine von vier Hochspannungsleitungen (750 kV) funktioniert
    • August: mehrfache Unterbrechung dieser letzten 750-kV-Leitung,
      • eine 330 kV-Leitung als letztes Backup zum Stromnetz
      • die letzten zwei laufenden Reaktoren werden notabgeschaltet und gehen vom Stromnetz
      • die Notstromdieselgeneratoren springen an, als letzte Option
    • eine 750 kV-Leitung und eine 330 kV-Leitung werden erneut repariert

Ferner konstatiert die IAEA:

“The (IAEA-) team took note that delivering spare parts and diesel fuel to the site was extremely difficult, and that transportation of spare parts was made possible only on a case-by-case basis in an unpredictable manner based on personal arrangement. Similarly, maintaining the current fleet of fire trucks is challenging due to unavailable spare parts.” (Übersetzung[19])

Die ukrainische Betreibergesellschaft Energoatom berichtet:

  • Am 9.12.2022: die russischen Besatzer entführen den Leiter und stellvertretenden Leiter des AKW und verprügeln den Schichtleiter[20]
  • Es werden Waffen im AKW untergebracht
  • Besetzung von zwei unterirdischen Leitwarte-Bunkern, welche für die Steuerung des AKW im Notfall vorgesehen sind durch russische Soldaten als Aufenthaltsräume[21]

Das Gefährdungspotential für Europa

Die Reaktortypen der verbliebenen AKW sind andere als in Tschernobyl – wie hoch die mögliche jeweilige Verseuchung wann und wo wäre, sollte umgehend simuliert und öffentlich diskutiert werden. Dazu will dieses Papier einen Anstoß geben – oder liegen die Simulationen bereits in der Schublade und müssten nur veröffentlicht werden?

Abbildung 7: Ausbreitung der Radioaktivität nach dem GAU in Tschernobyl am 28.04.1986 – Quelle: Bundesamt für Strahlenschutz (https://www.bfs.de/DE/themen/ion/notfallschutz/notfall/tschernobyl/tschernobyl_node.html)

Ein Blick auf die Karte der Ausbreitung der Radioaktivität des Reaktorunfalls von Tschernobyl zeigt jedoch vor allem eines: Obwohl wir in Westeuropa häufig vorherrschende Südwestwinde haben, hat sich die Strahlung nahezu gleichmäßig sternförmig in alle Richtungen ausgebreitet. Dabei war die Belastung in Westrichtung sogar stärker als nach Osten.

Das nukleare Potential der fünf AKW-Standorte mit insgesamt 20 noch intakten Atomreaktoren ist immens. Dabei sind derzeit sechs Reaktoren von Saporishja erst seit kurzem im „kalten Betrieb“, drei von Tschernobyl stillgelegt (aber mit Kühlbedarf), sowie elf Reaktorblöcke laufend. Dazu kommen als akute Gefahr die Abklingbecken mit zahllosen genutzten hoch radioaktiven Brennstäben, die ebenfalls permanent aktiv gekühlt werden müssen. Insgesamt kann das nukleare Inventar / Gefährdungspotential als rund das 20- bis 100-fache von Tschernobyl angegeben werden.

Wäre ein gleichzeitiger GAU aller Atomkraftwerke in der Ukraine denkbar?

Sobald das gesamte Hochspannungssystem der Ukraine in den Blackout gebombt wurde, sind alle ukrainischen AKW ohne externe Stromzufuhr und gehen alle gleichzeitig in den Kühl-Betrieb mit Notstrom-Dieselaggregaten über. Dieser Zustand war bereits mehrfach nahezu erreicht. Wie zuvor beschrieben müssten dann alle Atomkraftwerke gleichzeitig und permanent ohne jede Störung mit Tanklastwagen beliefert werden. Da Russland speziell im November und Dezember 2022 sehr gezielt, wie geschildert, die Umspannwerke und Kraftwerke beschossen hat, waren am 23. November bereits alle Atomkraftwerke vom Elektrizitätsnetz getrennt. Am 16. Dezember gab es einen so starken Angriff, dass alle Kohlekraftwerke gleichzeitig vom Netz gingen, ebenso ein AKW, während die restlichen AKW in den Drosselbetrieb weiterliefen. Die Ukraine ist somit bereits mehrfach nur knapp am vollständigen Blackout des Hochspannungsnetzes vorbeigeschrammt. Ob es realistisch ist, alle AKW der Ukraine gleichzeitig im Kriegsgebiet ständig mit Diesel zu beliefern ist eine kritische Frage.

Ob des bisher beobachteten Verhaltens Russlands sowie der Kriegsstrategie der letzten Monate 2022 sieht es so aus, dass seitens Russlands eine sehr gezielte Zerstörung der Elektrizitätsinfrastruktur – insbesondere des Hochspannungsnetzes – der Ukraine vorangetrieben wird. Ob es in Russlands Interesse ist, eine nahtlose Versorgung der AKW-Standorte mit Treibstoff zu ermöglichen, muss nach bisherigen Erfahrungen bezweifelt werden. Sollten die Straßen, Bahnlinien oder Brücken zerstört sein, wären die Zufahrten vermint, würden die Transporte mit Raketen oder Drohnen angegriffen, wäre eine solche Versorgung ausgeschlossen.

Die nukleare Sicherheit Europas einem solchen Vabanque-Spiel anzuvertrauen wäre leichtsinnig.

Daher müssen umgehend Maßnahmen ergriffen werden, ein solches Szenario auszuschließen.

Derweil ruft die Präsidentin des deutschen Bundesamts für Strahlenschutz (BFS), Inge Paulini, bereits zur Vorbereitung auf nukleare Notfälle auf: „Der russische Angriffskrieg auf die Ukraine hat einer breiten Öffentlichkeit vor Augen geführt, dass wir auf ganz verschiedene nukleare Notfälle vorbereitet sein und bleiben müssen“[22].

Mögliche Folgen eines GAU in der Ukraine:
Verseuchung der Kornkammer der Welt?

Die Folgen eines umfassenden GAU-Ereignisses in der Ukraine wären unzweifelhaft schwerwiegend für die gesamte Flora und Fauna – durch die mögliche Gleichzeitigkeit eines Geschehens an mehreren Standorten – noch dazu unter den Umständen des Krieges – erscheint auch eine Eindämmung umso schwieriger.

Eine klare Folge wäre die radioaktive Verseuchung größerer heutiger Anbauflächen für Lebensmittel. Dies könnte zur starken Angebotsverknappung und rasanten Preissteigerungen führen. Was passiert, wenn die Ukraine und ein teilweise verseuchtes Europa plötzlich netto-Lebensmittel-Importeure würden, statt Überfluss zu exportieren?

Börsengetrieben würden auch im Rest der Welt die Lebensmittelpreise explodieren mit den möglichen Folgen von Unruhen, Demonstrationen und Aufständen. Insbesondere alle armen Staaten – und alle heutigen von Lebensmittelimporten abhängigen Staaten hätten dann ein Riesenproblem. Die möglichen Folgen eines ukrainischen Supergaus auf die Welternährungssicherheit und die Weltwirtschaft müssen umgehend genauer untersucht werden.

Dringende erste Schritte zur Verhinderung eines Blackouts des ukrainischen Elektrizitätssytems

  • Die möglichen Folgen eines Blackout des ukrainischen Hochspannungssystems sollten offen international diskutiert werden, denn es geht um die Sicherheit und Gesundheit aller Ukrainer sowie von Generationen an Europäern – und um die Welternährungssicherheit
  • Umgehende Aufnahme von Gesprächen mit den Partnern und Verbündeten von Russland, um weitere Attacken auf das Elektrizitätssystem der Ukraine zu international zu ächten
  • Einberufung des UN-Sicherheitsrates zum Thema des Angriffes auf das Elektrizitätssystem
  • Sicherung einer breiten internationalen Unterstützung für die von dem Generalsekretär der Internationalen Atomenergieorganisation (IAEA) Rafael Grossi geforderte UN-Sicherheitszone rund um das besonders gefährdete AKW Saporishja
  • Nur ein Waffenstillstand kann mehr Sicherheit im eigentlichen Sinne bringen, daher ist umgehend ein Frieden mit dem vollständigen Rückzug der russischen Truppen aus dem ukrainischen Staatsgebiet anzustreben
  • Ein Kampf um die Krim sollte vermieden werden, da das größte AKW Europas, zugleich das gefährdetste der Welt somit im Zentrum einer aktiven Kriegs-Kampfzone liegen würde
  • Einrichtung einer internationalen Emergency Task Force zur Sicherung der Kühlung der ukrainischen AKW

Fazit: Maßnahmenpakete zur Prävention eines ukrainischen Supergaus sind umgehend zu erarbeiten


Autor*innen:

Astrid Schneider und Karl-Wilhelm Koch, Autor*innen des Buches „Störfall Atomkraft“, VAS 2009

Fußnoten / Quellen

https://www.stoerfall-atomkraft.de/site/das-buch/

https://www.astrid-schneider.de/de/publikationen/buch-stoerfall-atomkraft/

[1] https://www.energoatom.com.ua/app-eng/eng-2311222.html

[2] https://dtek.com/en/media-center/news/cherez-raketni-obstrili-rosii-energetichne-pidpriemstvo-dtek-energo-vidklyuchilos-vid-energosistemi/

[3] https://www.handelsblatt.com/politik/international/ukraine-krieg-jeder-russische-angriff-schwaecht-das-ukrainische-stromnetz-weiter-da-helfen-auch-die-reparaturen-nichts/28874736.html

[4] HEUTE-Nachrichten im ZDF am 29.12.2022

[5] https://www.ecohubmap.com/hot-spot/the-nuclear-threat-of-the-yunkom-mine/1baskqmlajmz4on

[6] Interview Petro Kotin Energoatom in „Novaya Gazeta“ vom 17.09.2022 – hier zu finden

[7] https://www.ecohubmap.com/hot-spot/the-nuclear-threat-of-the-yunkom-mine/1baskqmlajmz4on

[8] https://www.energoatom.com.ua/app-eng/eng-2411221.html

[9] “Diese kriminellen Handlungen Putins und seiner Komplizen, welche die die Menschheit an den Rand einer nuklearen Katastrophe treiben, können nicht anders als Erpressung der ganzen Welt bezeichnet werden. Russland muss sich für dieses schändliche Verbrechen verantworten. Zusätzliche harte Sanktionen sollten unverzüglich gegen den Staat verhängt werden, der den Terrorismus unterstützt, insbesondere gegen Rosatom und seine verbundenen Strukturen, die ein integraler Bestandteil der russischen kriminellen Macht sind. Die internationale Gemeinschaft kann den vom Kreml entfesselten verbrecherischen Krieg und das drohende nukleare Armageddon nur dadurch stoppen, dass sie den Druck auf den blutigen Aggressor drastisch erhöht und ihn weiter politisch, wirtschaftlich, finanziell usw. isoliert sowie die Ukraine weiterhin mit allen notwendigen Waffen versorgt.”

[10] NUCLEAR SAFETY, SECURITY AND SAFEGUARDS IN UKRAINE, 2nd Summary Report by the Director General, 28. April – 5 September 2022

[11] IAEA – NUCLEAR SAFETY, SECURITY AND SAFEGUARDS IN UKRAINE, 2nd Summary Report by the Director General, 28. April – 5 September 2022

[12] https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-iaea-bericht-saporischschja-101.html

[13] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/iaea-explosionen-akw-saporischschja-ukraine-krieg-russland-100.html

[14] https://www.fr.de/politik/saporischschja-akw-ukraine-krieg-atomkraftwerk-strom-notstrom-kuehlung-russland-news-zr-91845893.html

[15] https://www.iaea.org/nuclear-safety-and-security-in-ukraine

[16] https://www.iaea.org/newscenter/pressreleases/update-139-iaea-director-general-statement-on-situation-in-ukraine

[17] https://www.entsoe.eu/data/map/downloads/

[18] IAEA – NUCLEAR SAFETY, SECURITY AND SAFEGUARDS IN UKRAINE, 2nd Summary Report by the Director General, 28. April – 5 September 2022

[19] Das (IAEO-)Team nahm zur Kenntnis, dass die Lieferung von Ersatzteilen und Dieselkraftstoff an den Standort äußerst schwierig war und dass der Transport von Ersatzteilen nur von Fall zu Fall und unberechenbar auf der Grundlage persönlicher Absprachen möglich war. Gleichzeitig ist die Instandhaltung der derzeitigen Flotte von Feuerwehrautos ist eine Herausforderung, da keine Ersatzteile verfügbar sind.

[20] https://www.energoatom.com.ua/app-eng/eng-0912221.html

[21] https://novayagazeta-eu.translate.goog/articles/2022/09/17/kak-rossii-uiti-seichas-so-stantsii-s-chistym-litsom-pridetsia-bezhat?_x_tr_sl=auto&_x_tr_tl=de&_x_tr_hl=de&_x_tr_pto=wapp

[22] https://www.rnd.de/politik/nuklearer-notfall-strahlenschutzamt-praesidentin-fordert-bessere-vorbereitung-SXMFKM5NOTKJMOJG34RTNC666I.html

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1 Kommentar

    • Klaus Moegling auf 13. Januar 2023 bei 15:33
    • Antworten

    Vielen Dank für diese ausgezeichnete und differenziert recherchierte Analyse des Bedrohungspotentials! Hoffentlich nehmen die Regierenden dies zur Kenntnis, u.a. auch die regierenden Grünen.

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