Der „kleine“ Atomkrieg in der Ukraine

AKTUALISIERUNG 18.12.2022, Hinweis Bernhard Trautvetter bzgl. Vorgeschichte und Gefährdung bei Kühlmittelausfall

AKTUALISIERUNG 7.9.2022:

Zum Bericht und den Schlussfolderungen der IAEA nach ihrem Besuch berichtet u.a. die Tagesschau:
https://www.tagesschau.de/ausland/europa/ukraine-iaea-bericht-saporischschja-101.html


In der Ukraine tobt derzeit – wenn man genau hinsieht – bereits ein „Atomkrieg“. Russische Truppen haben bereits am 4. März das Atomkraftwerk Saporischschja besetzt. Die Tatsache, dass die Stadt über 120 km via Straße und ca. 50 km Luftlinie entfernt (und in ukrainischer Hand) ist, erklärt sich dadurch, dass die ukrainischen AKWs jeweils nach der Provinz und nicht nach der nächstgelegenen Stadt benannt sind.  Das AKW liegt am Südufer des Dnepr, der hier einen großen See bildet, auf dem Territorium der Stadt Enerhodar. Diese wiederum ist russisch besetzt.

Das Kernkraftwerk, vom ukrainischen Staatsunternehmen Energoatom betrieben, versorgt fast den gesamten Süden der Ukraine und ist seit dem Wegfall aller vier Blöcke des Kernkraftwerks Tschernobyl essenziell für die Energieversorgung der Ukraine. Aktuell wird der Strom auch im nicht besetzten Teil dringend gebraucht, aber auch im russisch besetzten Süden.[1] Die russische Militärführung hat mehrfach „laut“ darüber nachgedacht, die Stromführung so zu ändern, dass nur noch der Süden und (neu) die Krim versorgt würde. Technisch dürfte das sehr schwierig, wenn überhaupt ohne Mitarbeit der „anderen Seite“, machbar sein. Auf jeden Fall müsste das AKW dafür vollständig vom Netz getrennt werden. Falls die Russen das in Eigenregie versuchen sollten, hat die ukrainische Regierung „massive Gegenschläge“ angedroht, u.a. das Kappen der Stromversorgung[2].

AKW ohne Strom

Der Stromausfall eines AKWs ist die Vorstufe zum Super-GAU (Kernschmelze und Explosion). Zwar haben alle AKWs für diese Fälle Reserven. So auch das AKW Saporischschja. Das sind Dieselmotoren (Generatoren), die Strom erzeugen und  einspeisen. Für ein AKW reicht das im Regelfall für 1 bis max. 3 Tage. Wie groß die gelagerten Dieselvorräte in Saporischschja noch sind (es gab ja schon einige Totalabschaltungen) und ob nachgefüllt werden konnte, ist völlig unklar.
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(Erg. 18.12.2022)

Dieses Risiko einer Havarie in mindestens einem der Nuklearreaktoren der Ukraine (die ihre Energieversorgung zu circa 60 Prozent mit Strom aus Atomkraftwerken bezieht)  ging Russland bereits mit der Eröffnung des Krieges ein, und dieses Risiko steigerte die Nato seit 2014: Im Mai dieses Jahres beriet eine Nato-Kommission die Ukraine im Umgang mit Atomkraftwerken im Kriegsfall.x Zitat aus einer Datei der Tagesschau vom 28.05.2014, die nicht mehr online ist: „Die Sensation kam eher beiläufig ans Licht und blieb von der Öffentlichkeit bislang weitgehend unbeachtet: Die ukrainische Regierung hat die NATO um Beistand gebeten, und die NATO hat diesem Wunsch entsprochen – dem Wunsch um Hilfe bei der Sicherung der 15 noch in Betrieb befindlichen Atomkraftwerke des Landes.
Gegen Ende der Frage-und-Antwort-Runde seiner Pressekonferenz am 19. Mai sagte NATO-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen auf Nachfrage eines Journalisten: “Ja, wir haben auf Bitten der Ukraine eine kleine Gruppe ziviler Experten in die Ukraine entsandt, um den Behörden zu helfen, die Sicherheit ihrer zivilen Nuklearanlagen zu verstärken. …“ (Das hier zitierte Dokument, das B. Trautvetter vorliegt ist nicht mehr im Internet vorhanden. Der Reporter berichtet darüber, dass er in dieser Sache zu der entsprechenden Zeit vor Ort recherchiert hat. ) In diese Situation hinein begann die Nato, die Ukraine massiv aufzurüsten und „ukrainische Soldaten für einen größeren Krieg gegen Russland auszubilden“. Demzufolge gingen und gehen beide Seiten das Risiko einer nuklearen Verstrahlung ein. Eine solche Havarie kann eine Großregion verstrahlen und auf lange Zeit unbewohnbar machen.
Es geht hier nicht alleine um eine mögliche Zerstörung eines Reaktorschutzbehälters durch einen Explosivkörper, genauso gefährlich ist ein Unterbruch der Kühlung durch Strom- und Wasserausfall. Atomreaktoren brauchen sicher garantierte Kühlung auch selbst nach Abschaltung, sonst droht eine Kernschmelze. Dann erhitzt der Reaktor sich dergestalt, dass er durch den ihn tragenden Betonsockel hindurch-‚schmilzt‘ und im darunter liegenden Erdreich nach einer Weile auf Grundwasser stößt und eine verstrahlte Dampfwolke bewirkt, die sich dann über dem Kontinent je nach Windrichtung ausbreitet. Diese radioaktive Wolke kann auch den dicht besiedelten und stark industrialisierten westlichen Teil Russlands verstrahlen. Der Krieg kann insofern in einem nuklearen Inferno münden, das Tschernobyl massiv überschattet.
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Eine irrige Meinung ist, dass alle AKWs sich problemlos selbst mit Strom versorgen könnten. Einige können das in der Tat, solange der Kernprozess noch läuft, andere sind auf Strom von außen angewiesen, da dieser mit bestimmten Eigenschaften (Frequenz, Spannung …) zur Verfügungen stehen muss und der abgegebene Strom (der in die Fernleitungen geht) anders „konfiguriert“ ist.

Der GAU: Eher Fukushima statt Tschernobyl

Ein längerfristiger Stromausfall über mehrere Tage kann daher zur nuklearen Katastrophe führen. Mit dem Stromausfall fällt die Kühlung aus, die Brennstäbe überhitzen (da diese weiter Kernspaltung betreiben), das Wasser verdampft, es kommt zur Kernschmelze und durch den – aus Wasser mittels Stromkontakte und/oder Hitze entstehenden Wasserstoff – zur Explosion. Das war der Ablauf in Fukushima. Dabei wäre anders im Fall Tschernobyl[3] die Umgebung im Radius – abhängig von der Windrichtung – von ca. 200 bis 500 km direkt betroffen.

Hart umkämpft

Seit einigen Wochen ist das Gebiet offenkundig umkämpft, die Berichte über „Beschuss“ und Notabschaltungen häufen sich, vor allem wegen Netzabschaltungen. Laut Energoatom nutzen die russischen Truppen seit der Besetzung das AKW Saporischschja als Depot für Waffen und militärische Ausrüstung. “Das russische Militär beschießt das AKW, um die Infrastruktur zu zerstören und es vom Energiesystem der Ukraine zu trennen“, heißt es auf der Website von Energoatom[4]. Völlig unklar und von außerhalb nicht zu klären bleibt, WER das AKW beschießt. Russische Stellen werfen den Beschuss den ukrainischen Truppen vor, während ukrainische Stellen behaupten, russische Truppen wurden das AKW (und damit sich selbst) beschießen. Nicht, dass das durchgeknallten Strategen auf der russischen Seite nicht zuzutrauen wäre, insgesamt scheint dieses Argumentation jedoch eher unwahrscheinlich, zumal es offenbar nicht einzelne „Beschüsse“ sind, sondern mittlerweile massiv gefeuert wird.

Schmutzige Bombe

Ein Abschalten der AKW-Blöcke würde zwar die Gefahr verringern, sie bliebe aber dennoch extrem hoch. Was in Saporischschja eigentlich die größere Gefahr ist, sind die wahrscheinlich gut gefüllten Abklingbecken[5] und Trockenlager[6]. In den Abklingbecken lagern die ausgetauschten „alten“ Brennelemente, bis sie sich weitgehend abgekühlt haben. Hier ist eine weitere Kühlung unerlässlich. In Fukushima im Block 4 hätte das beinah zu einer Katastrophe geführt, die den Super-GAU nochmal gewaltig „getoppt“ hätte. Sind die Brennstäbe dann abgekühlt, kommen sie ins Trockenlager. Die Mengen an radioaktiven Spaltprodukten ist in beiden Fällen ein Vielfaches des Inhaltes eines AKW-Blocks. Der Schutz der Anlage ist meistens (auch bei etlichen Lagern an alten AKWs in Deutschland und vielen Zwischenlagern) DEUTLICH geringer als der Schutz der Reaktoren. Ein gezielter Beschuss oder eine Bombardierung wurde mit großer Wahrscheinlichkeit keine Explosion hervorrufen (außer der der eingesetzten Bomben oder Granaten selbst). Aber größte Mengen an Radioaktivität würden freigesetzt, das Prinzip einer „schmutzigen Bombe“[7].

Muss Russland Gegenschläge fürchten?

Russland hat hier jederzeit die Möglichkeit zu eskalieren. Putin spielt dabei bewusst mit der Angst der Europäer*innen vor einem 2. Tschernobyl. Im Fall eines bewusst herbei geführten GAUs oder Super-GAUs muss er keine „Gegenschläge befürchten (auch wenn mit Wolgodonsk und Kursk zwei AKW in Grenznähe liegen), es sein denn die Ukrainer hätten bis dahin weitreichende Waffen und die Genehmigung der USA oder der anderen Lieferanten, diese in diesem Sinn einzusetzen – eigentlich nicht vorstellbar.

Lösungsansätze? NULL!

Eine Lösung wird sich nur in einem Gesamt-Waffenstillstand oder -Friedensvertrag finden lassen. Die russischen Truppen werden dieses Faustpfand auf keinen Fall freiwillig räumen. Und die ukrainische Truppen können das Gelände nicht im Kampf erobern, ohne eine oder mehrere Kernschmelzen oder die Freisetzung von Radioaktivität aus den Abklingbecken oder den Trockenlager zu riskieren.

Die einzige sinnvolle Lösung wäre ein “Unter-Kontrolle-der-UN-Stellen” des AKWs, dem Russland nicht zustimmen wird. Das Völkerrecht hat dazu erstaunlich genaue Regeln: Das Genfer Abkommen von 1949 und seine späteren Zusatzprotokolle regeln die Austragung bewaffneter Konflikte und sollen ihre Auswirkungen begrenzen. Im 1. Zusatzprotokoll von 1977 ist in Artikel 56 vom “Schutz von Anlagen und Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten” die Rede. Dabei werden neben Staudämmen und Deichen ausdrücklich auch Kernkraftwerke genannt. Da die Russische Föderation und die Ukraine Vertragsparteien sind und keine Vorbehalte zum 1. Zusatzprotokoll geäußert haben, gelten die Regelungen für beide Staaten.[8]

Weiterführende Infos:

Hier finden Sie von Detlev zum Winkel zwei Beiträge, in denen die Vorgänge und Hintergründe akribisch aufbereitet wurden:

https://bruchstuecke.info/2022/09/02/atomkraftwerk-saporischschja-teil-1-wissenschaftler-fuer-sofortige-abschaltung/

https://bruchstuecke.info/2022/09/03/atomkraftwerk-saporischschja-teil-2-attacken-chaos-dementis/

Links im Text

[1] https://www.dw.com/de/was-das-akw-saporischschja-f%C3%BCr-die-ukraine-bedeutet/a-62973903

[2] https://www.rnd.de/politik/ukraine-krieg-atomkonzern-will-stromleitung-des-akw-saporischschja-kappen-JCJLJXSIWGB32DV4JOR3BWHFFA.html

[3] aufgrund des dortigen „Kamineffektes“ bei Reaktorbrand, der Reaktor war Grafit-moderiert, bestand also aus Kohle. Dadurch wurden die frei gesetzten radioaktiven Partikel bis in den Jetstream auf über 10.000 m hochgetragen und großflächig verteilt.

[4] Dw, ebenda, 1)

[5] https://de.wikipedia.org/wiki/Abklingbecken

[6] https://www.greenpeace.de/klimaschutz/energiewende/atomausstieg/12-zwischenlager-akw-standorten

[7] https://www.bfs.de/DE/themen/ion/notfallschutz/bfs/gefahrenabwehr/schmutzige-bombe.html

[8] https://www.dw.com/de/ukraine-krieg-und-atomkraftwerke-was-das-v%C3%B6lkerrecht-sagt/a-62852402

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2 Kommentare

  1. Danke für den Hinweis, ich habe das geändert: “… dass die Stadt über 120 km via Straße und ca. 50 km Luftlinie entfernt ist …”
    Karl-W.

  2. …nur am Rande: Die Stadt Saporischschja ist (Luftlinie) keine 100, sonder ca. 55km vom AKW Saporischschja entfernt.
    Aber das spielt ja für die grundsätzliche Argumentation erstmal keine Rolle…
    Gruß
    Georg

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