Armutsfest statt Almosen

von Peter Alberts
Sonntag, 20.02.2011 – in Berlin tritt am Nachmittag die Verhandlungsrunde zur Hartz IV-Neuregelung zusammen. In der Diskussion steht ein Vorschlag der drei Ministerpäsidenten Beck, Seehofer und Böhmer, der meiner Meinung nach ein erneuter Verfassungsbruch mit Ansage wäre. Anlass für grüne FreundInnen und mich einen Appell an die Grünen VerhandlerInnen dieser Runde zu schreiben und sie darin zu bestärken, diesen faulen Kompromiss abzulehnen. Der Appell wurde am 20.02.2011 mittags gegen 12:30 an den Bündnisgrünen Bundesvorstand und die bündnisgrünen Bundestagsabgeordneten aus Fraktionsvorstand und Arbeitskreis 1 verschickt.

Armutsfest statt Almosen

Es geht um die Menschenwürde

Wenn wir über eine grüne Position zur Neuregelung der Hartz IV-Gesetzgebung nachdenken, ist es notwendig, sich zuerst die Prämissen dafür noch einmal klar zu machen. Der Hartz IV-Regelsatz beschreibt das absolute Minimum, das für ein menschenwürdiges Leben in diesem Land notwendig ist. Deswegen ist er keine beliebige politische Stellschraube, an der in die eine oder andere Richtung gedreht werden kann, sondern er hat direkte und unmittelbare Relevanz für das oberste Staatsziel des Grundgesetzes, die Wahrung der Menschenwürde. Weil es die Große Koalition ab 2005 und Schwarz-Gelb ab 2009 versäumt haben, durch eine nachvollziehbare Berechnungsgrundlage und die daraus  dringend notwendige Erhöhung des Regelsatzes die Menschenwürde der Hartz IV-Beziehenden in diesem Land zu achten und sicherzustellen, hat das Bundesverfassungsgericht mit seinem Urteil vom 9.2.2010 eingegriffen und genau das gefordert und angemahnt: „der Gesetzgeber [muss] alle existenznotwendigen Aufwendungen […] in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf, also realitätsgerecht, […] bemessen.“ Das BVerfG hat unmissverständlich klargemacht, dass die bisherige Berechnungsgrundlage eben nicht realitätsgerecht ist und den tatsächlichen Bedarf der Menschen nicht deckt.
Grüne und Hartz IV: Lessons learned
Als Bündnis 90 / Die Grünen tragen wir Mitverantwortung an der Agenda 2010 und damit auch an der Hartz IV-Gesetzgebung. Dieser Verantwortung haben wir uns gestellt und auf unserer Nürnberger BDK 2007 eine auch selbstkritische Bestandsaufnahme gemacht und grüne Forderungen abgeleitet. So haben wir dort u.a. beschlossen:  „Auch die Höhe der finanziellen Absicherung hat sich als ungenügend erwiesen. Wir orientieren uns mit unserem Modell an den Berechnungen des Deutschen Paritätischen Wohlfahrtsverbandes (DPWV) und fordern eine Regelleistung von 420 Euro. Diese Regelleistung wird in Zukunft regelmäßig überprüft und gegebenenfalls in der Höhe angepasst.“ Die Wohlfahrtsverbände fordern auch heute einen Regelsatz in ähnlicher Höhe und es ist kein Grund erkennbar, warum eine Überprüfung der Regelleistung heute ein Ergebnis unterhalb der schon in 2007 für notwendig erachteten 420 EUR erbringen sollte.
Mit den Beschlüssen der Bundesdelegiertenkonferenzen nach dem Ende der rot-grünen Bundesregierung haben wir uns an vielen entscheidenden Stellen der notwendigen selbstkritischen Bilanzierung unserer Regierungspolitik der Jahre 1998-2005 gestellt – anders als die SPD, bei der dieser Prozess, wenn überhaupt, gerade erst angefangen hat. Die guten Umfrageergebnisse und hohen Zustimmungswerte für Grün erklären sich – neben der eklatanten Schwäche von Schwarz-Gelb – auch daraus. In der Frage der sozialen Gerechtigkeit hängt unsere grüne Glaubwürdigkeit zu einem hohen Maß gerade an dem zitierten Nürnberger BDK-Beschluss. Wenn wir für die Bürgerinnen und Bürger verlässlich bleiben wollen, müssen wir zuallererst unsere eigenen Beschlüsse und Versprechungen, die wir den Menschen gemacht haben, ernst nehmen und umsetzen.
Viele süße Bonbons, aber eine umso bitterere Pille
Im aktuellen Vermittlungsverfahren sind in vielen Bereichen, die nicht unmittelbar den Regelsatz betreffen, deutliche Fortschritte erzielt worden. Als Bündnisgrüne verstehen wir, dass optimale Bildungschancen gerade für sozial schwächere Kinder ein ganz entscheidender Faktor für eine langfristig nachhaltige Verbesserung der sozialen Gerechtigkeit sind. Deswegen begrüßen wir die Fortschritte, die in diesem Bildungspaket erreicht werden konnten.
Mit den Gewerkschaften und der Sozialdemokratie sind wir einverstanden, dass die Gelegenheit jetzt günstig ist, um die dringend erforderliche Gleichstellung und Absicherung von Leih- und ZeitarbeiterInnen zu erreichen.
Und als kommunalpolitisch stark verankerte Partei ist uns klar, dass das Angebot des Bundes, den Kommunen zumindest einen Teil der erdrückenden finanziellen Lasten aus der sozialen Sicherung abzunehmen, für viele Städte und Gemeinden schwer abzulehnen ist .
In allen diese Fragen sind im Verhandlungsprozess gewichtige Fortschritte erzielt worden, nicht zuletzt auch dank der geschickten und harten Verhandlungsführung von Fritz Kuhn und unseren anderen grünen VerhandlerInnen. Dafür gilt ihnen unser Respekt und unsere Anerkennung.
Es bleibt aber dabei, dass die zentrale Frage, um die es im jetzigen Vermittlungsverfahren geht, der Regelsatz ist. Wir können es nicht akzeptieren, dass mit weitgehenden Zugeständnissen in Nebenfragen ein Einknicken in der entscheidenden Frage erkauft wird.
Noch einmal: Wir verhandeln hier um den ökonomischen Kern der Menschenwürde in unserem Land. Ministerin von der Leyen hat mit allerlei Taschenspielertricks den Regelsatz erst künstlich herabgerechnet,  z. B. durch das Streichen von Alkohol und Tabak aus der Berechnungsgrundlage. Dass Hartz IV-Beziehende in Zukunft keinen Alkohol und Tabak mehr kaufen werden und deswegen dafür kein Geld mehr eingerechnet werden muss, ist eine ebenso weltfremde wie zynische Begründung. Aus ihr spricht Missachtung und Ekel vor dem „saufenden Pöbel“ und nicht Respekt und Sorge für die Menschenwürde der gesamten Bevölkerung und damit dem obersten Verfassungsauftrag. Vor allem ist diese Trickserei eins sicher nicht: realitätsgerecht.
Die veränderte Datengrundlage, aus der Frau von der Leyen den Regelsatz berechnen will, ist ebenfalls ein Taschenspielertrick. Wenn sie die Datenbasis auf die unteren 15 % der Einkommen als Berechnungsrahmen begrenzt, muss sie zwingend den hohen Anteil an verdeckter Armut – also von Menschen, denen Sozialleistungen zustünden, die sie aber aus Scham nicht annehmen – mit einberechnen, um zu einem realistischen und verfassungskonformen Wert zu kommen. Nur so, mit Hilfe dieser unzulässigen statistischen Manipulationen, lässt sich überhaupt der von der Bundesregierung vorgeschlagene minimal erhöhte Regelsatz erklären.
Somit missachtet die Bundesregierung sehenden Auges die Vorgaben aus Karlsruhe und kündigt den nächsten Verfassungsbruch an. Wir dürfen sie damit nicht durchkommen lassen. Die in der Diskussion befindlichen Zahlen von 8, 11 oder 13 EUR Regelsatzerhöhung sind deswegen inakzeptabel.
Grüne Mindestanforderungen an eine Neuregelung:
Um den Verfassungsauftrag der Achtung der Menschenwürde gerade auch für sozial Benachteiligte zu erfüllen, und ebenfalls um unsere wiedergewonnene Glaubwürdigkeit im Feld der sozialen Gerechtigkeit zu erhalten, sind für uns deswegen folgende Grundpositionen bei der Neuregelung der Hartz IV-Gesetzgebung entscheidend:
-> Eine Neuregelung muss nachvollziehbar gerechnet armutsfest sein. Orientierungsgröße dafür ist für uns die Forderung der Wohlfahrtsverbände: 420 EUR. Wir anerkennen, dass diese Zahl eine Verhandlungsgrundlage ist. Gleichwohl ist eine deutliche Abweichung nach unten in die von der Bundesregierung angebotene Region von 370 EUR für uns unter keinen Umständen zustimmungsfähig.
-> Eine Neuregelung muss gerichtsfest sein. Wir durchschauen den Versuch von Ministerin von der Leyen, das Thema Hartz IV im Superwahljahr 2011 von der politischen Bühne zu holen und dabei einen erneuten Verfassungsbruch bewusst in Kauf zu nehmen. Wir werden keiner Neuregelung zustimmen, an deren Verfassungskonformität begründete Zweifel bestehen. Den von einer voraussichtlich erneut verfassungswidrigen Neuregelung Betroffenen sagen wir unsere Unterstützung und Solidarität beim erneuten Klageweg zu.
-> Eine Neuregelung muss einen soliden, transparenten und realitätstauglichen Mechanismus zur Berechnung der Regelsätze enthalten. Die Wahrung der Menschenwürde mit der untersten Auffanglinie des Hartz IV-Regelsatzes darf nicht nach Kassenlage berechnet werden. Gerade das hat das BVerfG zu Recht gefordert und genau dem kommt der jetzige faule Vorschlag aus der Vermittlungskommission nicht nach.
Wenn auch nur einer dieser drei Kernsätze nicht erfüllt ist, kann es aus unserer Sicht keine grüne Zustimmung geben. Wir fordern deswegen von unserer Bundestagsfraktion, jedes derartige Vermittlungsergebnis abzulehnen. Von den grün mitregierten Bundesländern fordern wir, jedem derartigen Vermittlungsergebnis im Bundesrat nicht zuzustimmen.
Peter Alberts, KV Münster
Robert Zion, KV Gelsenkirchen
Ralf Henze, KV Odenwald-Kraichgau
Jörg Rupp, KV Karlsruhe, Landesvorstand Baden-Württemberg
Sven Giegold MdEP, KV Düsseldorf
Sabine Niels MdL Brandenburg, KV Oder-Spree
Stefan Ziller MdA Berlin, KV Marzahn-Hellersdorf
Gesine Agena, Bundessprecherin Grüne Jugend
Irene Mihalic, KV Gelsenkirchen, Landesvorstand NRW
Tobias Balke, KV Charlottenburg-Wilmersdorf
Joachim Schäfer, KV Frankfurt am Main
Elisabeth Bröskamp, KV Neuwied
Gabriela Schuchalter-Eicke, KV Wiesbaden, stellv. Sprecherin BAG Frauen
Claudia Laux, KV Ahrweiler
Dr. Didem Ozan, KV Münster
Gregor Kochhan, KV Greifswald-Uecker-Peene
Wolfgang G. Wettach, Vorstand KV Tübingen
Maik Babenhauserheide, KV Herford, Sprecher OV Enger
Markus Mezger, KV Hochtaunus
Verena C. Fuchslocher, KV Mannheim
Elisabeth Kömm-Häfner, Landtagskandidatin Heidenheim/Brenz
Hartmut Wauer, Vorstand KV Wangen, Sprecher GewerkschaftsGrün
Fardin Stanoksei, KV Münster
Marco Petrikat, Sprecher AK Internationales KV Köln
Lisa Löffler, KV Münster
René Engelhorn, Vorstand KV Neckar-Odenwald
Jochen Biedermann, KV Neukölln
Irmgard Winkelnkemper, KV Hersfeld-Rotenburg
Bärbel Maxisch, KV Kassel-Land
Stefan Lange, KV Mainz
Till Westermayer, Vorstand KV Breisgau-Hochschwarzwald
Walther Heuner, KV Dortmund
Alexander Salomon, KV Karlsruhe
Andrea Schwarz, KV Karlsruhe Land
Matthias Albrecht, KV Lippe
Thorsten Comtesse, KV Saarlouis
Oliver Schlickau, Finanzreferent KV Worms
Walter Wandtke, KV Essen , Ratsherr Stadt Esse
Peter Meiwald, KV Ammerland, Mitglied des nds. Parteirates
Karl-Wilhelm Koch, KV Vulkaneifel
Inge Lütkehaus, KV Oberberg
Bernd Frieboese, KV Reinickendorf
Jörg Obereiner, KV Ennepe-Ruhr
Matthias Grün, KV Göttingen Gemeinderat Gleichen
Carolin Friedemann, RV Hannover, Mitglied des nds. Parteirates
Hermino Katzenstein, KV Odenwald-Kraichgau
Arfst Wagner, KV Schleswig-Flensburg
Matthias Schneider, Sprecher KV Duisburg
Otto Reiners, KV Münster
Rüger Bender, KV Erfurt
Christian Zimmermann, KV Karlsruhe
Wolfgang S. Rettich, Vorstand KV Bochum & Wattenscheid
Eva Quistorp, MdEP a. D., KV Charlottenburg-Wilmersdorf
Elke Struzena, KV Fürstenfeldbruck
Rüdiger Brandt, KV Friedrichshain-Kreuzberg, wirtsch. + beschäftigungspol. Sprecher BVV
Patrick Gabler, Vorstand KV Kempten (Allgäu)
Claudia Nobel, Vorstand SV Oldenburg
Jan Frederik Wienken, KV Vechta, Sprecher GJ Niedersachsen
Gabriel Tiedje, KV Steglitz Zehlendorf
Martin Schmidt, Vorstand SV Chemnitz
David Jacobs, KV Köln
Kai Lendzian, RV Hannover
__________
UnterstützerInnen nach 12:30, 20.02.2011 (also nach Versand des Appells)
Sabine Brinkmann, KV Köln
Hans-Christian Markert MdL NRW, KV Rheinkreis Neuss
Markus Loosen, KV Münster
Matthias Lewin, KV Haßberge, Vorstand Bezirksverband Unterfranken
Klaus Meurer, KV Mayen-Koblenz, LAG-Sprecher Wirtschaft und Finanzen Rheinland-Pfalz
Jochen Aulbach, KV Mainz
Andrea Asch MdL NRW, KV Köln

Permanentlink zu diesem Beitrag: https://gruene-linke.de/2011/02/20/armutsfest-statt-almosen/

Schreibe einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.