Verlängerung des Afghanistanmandats durch den Bundestag

Persönliche Erklärung der Abgeordneten Agnes Malczak, Beate Müller-Gemmeke, Anton Hofreiter, Wolfgang Strengmann-Kuhn, Dorothea Steiner, Maria Klein-Schmeink, Stephan Kühn, Sylvia Kotting-Uhl, Sven-Christian Kindler und Agnes Krumwiede

Die Entscheidung über Auslandseinsätze der Bundeswehr gehört zu den schwierigsten Entscheidungen, die Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu treffen haben und fordert wie kaum eine andere das Gewissen und Herz der Parlamentarierinnen und Parlamentarier. Dem Engagement der in Afghanistan eingesetzten zivilen Helferinnen und Helfer, Soldatinnen und Soldaten sowie ihren Familienangehörigen gilt unsere große Wertschätzung und unser zutiefst empfundener Dank.
Das vorliegende Mandat setzt die im vergangenen Jahr begonnene Einsatzstrategie der militärisch offensiven Aufstandsbekämpfung fort. Unsere Nein-Stimme richtet sich gegen eine Strategie, die zur Eskalation beiträgt und damit den Anspruch der Stabilisierung Afghanistans nicht erfüllt. Unsere Ablehnung des Mandates ist nicht gleichzusetzen mit der Forderung nach einem Sofortabzug, den wir ausdrücklich zurückweisen, würde er doch die Situation in Afghanistan noch weiter destabilisieren.
Neun Jahre nach Beginn der Operation Enduring Freedom (OEF) und des ISAF-Einsatzes ist die Sicherheitslage in Afghanistan geprägt von gewaltsamen Auseinandersetzungen, bei denen ISAF-Truppen und afghanischen Sicherheitskräfte gegen Taliban und andere Aufständische kämpfen. Der Krieg in Afghanistan kostet insgesamt immer mehr Menschenleben, sowohl unter der afghanischen Zivilbevölkerung, als auch den Soldatinnen und Soldaten. 2010 war das blutigste Jahr seit Beginn des Einsatzes.
Dass die Spirale der Gewalt in Afghanistan so stark zunimmt, steht auch in Zusammenhang mit der offensiven Ausrichtung der militärischen Strategie der internationalen Truppensteller. Mit der von den USA im vergangenen Jahr initiierten und von der Bundesregierung mit getragenen Truppenaufstockung und dem militärischen Strategiewechsel zur verstärkten Aufstandsbekämpfung und Ausweitung der gezielten Tötung von Talibankämpfern nahm die Gewalteskalation dramatisch zu. Nicht nur im Süden, wo massive Militäroperationen durchgeführt werden und die Bedrohungslage am höchsten ist, sondern auch im deutschen Einsatzgebiet im Norden wurden die Bekämpfung von Aufständischen und gezielte Tötungen vorangetrieben. Die Bundeswehr beteiligt sich vor allem im Rahmen von Ausbildungsoperationen an offensiven Kampfeinsätzen. Das Ausbildungskonzept des so genannten partnering sieht den gemeinsamen Einsatz von deutschen Ausbildern und afghanischen Sicherheitskräften in der Fläche vor, um die Kontrolle in von Taliban beherrschten Gebieten zu gewinnen. Die verstärkte Gewichtung der Ausbildung innerhalb des Mandates ist somit nichts anderes als eine verharmlosende Umschreibung für die Verfolgung einer Offensivstrategie. Die zunehmenden Kampfeinsätzen zur Rückeroberung der von Taliban beherrschten Gebiete und steigende Anzahl von Anschlägen durch Aufständische trifft insbesondere die Zivillistinnen und Zivilisten. Unsere Ablehnung des Mandates richtet sich vor allem gegen diese Schwerpunktlegung auf den Einsatz militärischer Gewalt und die daraus resultierende Eskalation. Durch die Gesamtausrichtung des Mandates ist das Primat des Schutzes der Zivilbevölkerung nicht mehr gewährleistet. Die derzeitige militärische Strategie kostet zahlreiche Menschenleben, verursacht furchtbares menschliches Leid und verspielt damit auch die notwendige Unterstützung der afghanischen Bevölkerung. Eine Umfrage von ARD, ABC, BBC und Washington Post vom Dezember 2010 ergab, dass sich die Einstellung der afghanischen Bevölkerung gegenüber den ISAF-Truppen deutlich verschlechtert hat und eine breite Mehrheit der Afghaninnen und Afghanen inzwischen erstmals eine negative Einstellung gegenüber Deutschland hat.
Ziel der Aufstandsbekämpfung und gezielten Tötung ist es, die Taliban zu schwächen und an den Verhandlungstisch zu bringen. Der vermehrte Einsatz militärischer Gewalt hat jedoch nicht zur Schwächung der Taliban und anderer Aufständischer geführt. Im Gegenteil, er hat die Chancen auf Frieden durch eine politische Lösung verringert. Für eine solche ist ein regionaler Ansatz, der alle relevanten Akteure in der Region mit einbezieht zentral. Dabei muss insbesondere die Zusammenarbeit mit dem benachbarten Pakistan im Vordergrund stehen, denn dort gewinnen die Taliban vermehrt neue Kämpfer und bereiten zahlreiche Angriffe vor. Eine nachhaltige politische Lösung, die von der Gesamtgesellschaft Afghanistans getragen wird, ist jedoch mit der aktuellen afghanischen Regierung äußerst schwierig. Karzais Regierung und das politische System insgesamt stecken in einer tiefen Legitimitätskrise. Aufgrund des fehlenden Gewaltmonopols beherrschen Warlords und Drogenkartelle Teile des Landes und nehmen großen Einfluss auf die Politik. Bei den Präsidentschafts- und Parlamentswahlen kam es zu zahlreichen Fällen von Wahlbetrug. Schließlich verliert die politische Führung aufgrund ihres Versagens bei der Korruptions- und Drogenbekämpfung sowie beim Staatsaufbau zunehmend die Unterstützung der Bevölkerung. Doch wir dürfen uns nichts vormachen. Um die Gewalt in Afghanistan einzudämmen, ist eine politische Verhandlungslösung mit allen relevanten Akteurinnen und Akteuren notwendig.
Dabei stehen wir vor dem Dilemma, dass Frieden und Gerechtigkeit in Afghanistan nur schwer miteinander verwirklicht werden können. Dies wird zu Kompromissen zwingen, die in demokratischer und menschrechtlicher Hinsicht kritisch sind. Dennoch darf die Unterstützung der afghanischen Regierung dabei, eine Verhandlungslösung mit Aufständischen zu erzielen nicht bedingungslos erfolgen.
Bisher wurden Frauen und andere wichtige Bevölkerungsgruppen unzureichend oder gar nicht am Versöhnungsprozess beteiligt. Ohne eine gesamtgesellschaftliche Beteiligung ist jedoch eine Versöhnung nicht möglich. Auch der von der Internationalen Gemeinschaft bereitgestellte Reintegrationsfonds für ehemalige Talibankämpfer, der von der Bundesregierung mit insgesamt 50 Millionen Euro mitfinanziert wird, bedarf einer kritischen Betrachtung. Da die Durchführung des Taliban-Aussteigerprogramms ohne jede Kontrolle Karzai überlassen wird, ist höchst fraglich, ob die zur Verfügung gestellten Mittel zweckmäßig eingesetzt und nicht für machtpolitische Partikularinteressen missbraucht werden. Die Belohnung von Talibanführern, die für Menschenrechtsverletzungen und die Tötung zahlreicher unbeteiligter Zivilsten verantwortlich sind, erzeugt ein gravierendes Gerechtigkeitsproblem, das sich negativ auf die Unterstützung derer, die bisher mit den internationalen Kräften kooperiert haben, auswirken kann und somit eine nachhaltige Versöhnung gefährdet. Da Frieden ganz ohne Gerechtigkeit nicht möglich ist, müssen Menschenrechtsverletzungen mit geeigneten Instrumenten aufgedeckt und aufgearbeitet werden. Das Mandat und die Afghanistanpolitik der Bundesregierung insgesamt lässt diese mit dem Versöhnungsprozess verbundenen zentralen Herausforderungen völlig außer Acht.
Aufgrund koalitionsinterner Rivalitäten zwischen dem Bundesaußenminister und dem Bundesverteidigungsminister enthält das Mandat nur vage Aussagen zum militärischen Abzug. Das Parlament wird im Unklaren darüber gelassen, wann und wo mit einem Abzug der Bundeswehr aus Afghanistan begonnen werden soll, an welchen Zwischenzielen man sich orientieren will und wie lange deutsche Truppen noch in Afghanistan verbleiben werden. Völlig unbeantwortet bleibt die Frage, wie gewährleistet werden kann, dass auch für die Zeit nach der Übergabe der Verantwortung für die Sicherheit an die afghanischen Sicherheitskräfte und dem Abzug der Bundeswehr die zivile Hilfe fortgesetzt wird.
Aufgrund der Aufstockung der finanziellen Mittel sind beim zivilen Aufbau zunehmend Erfolge zu verzeichnen. Doch auch wenn im Vergleich zu den vergangenen Jahren deutlich mehr Geld in den zivilen Aufbau gesteckt wird, führt er im Vergleich zur militärischen Komponente ein Schattendasein. Die Konzentration auf militärische Kapazitäten zeigt sich auch an der chronischen Vernachlässigung der im politischen Auftrag stehenden UN-Mission UNAMA in Afghanistan, die im Vergleich zur NATO-Mission völlig unterfinanziert ist. Bei der Unterstützung des Aufbaus eines funktionierenden afghanischen Sicherheitsapparates kommt der Polizeiaufbau viel zu kurz. Die Polizeiausbildung müsste viel deutlicher verstärkt werden. Im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit machen der zunehmende Rückzug von Hilfsorganisationen aus Afghanistan aufgrund der sich verschlechternden Sicherheitslage sowie die Schwierigkeiten beim Mittelabfluss außerdem deutlich, dass eine Fokussierung auf die Erhöhung der Mittel zu kurz gedacht ist. Es muss vor allem die Wirksamkeit der Mittel sichergestellt werden.
Hierzu bedarf es einer verstärkten Einbeziehung der afghanischen Bevölkerung, einer verbesserten Koordination des zivilen Aufbaus, der Bekämpfung der massive Korruption als eines der Haupthindernisse für den wirksamen Einsatz der Mittel sowie einer sinnvollen Schwerpunksetzung. Es bedarf auch eines Gesamtkonzepts für die Wirtschaftsentwicklung Afghanistans, das an den Bedürfnissen der afghanischen Bevölkerung und den Gegebenheiten vor Ort angepasst ist. Hierbei müsste der für die afghanische Wirtschaft zentrale landwirtschaftlichen Sektor besonders berücksichtigt werden. Auch die Modernisierung des afghanischen Bildungssystems und der Ausbau von Hoch- und Berufsschulen sollten bei den Unterstützungsleistungen im Vordergrund stehen.
Der Erfolg der Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan setzt ebenso wie der Aufbau des Sicherheitssektors funktionierende Regierungs- und Verwaltungsstrukturen voraus. Es gibt jedoch im vorliegenden Mandat keine Auskunft über den zur Verbesserung bzw. Schaffung solcher Strukturen benötigten deutschen Beitrag. Statt diese Mängel zu beheben wird sogar völlig auf eine nähere Beschreibung des zivilen Engagements Deutschlands in Afghanistan verzichtet – die grüne Forderung zur Vorlage eines Gesamtmandates, das die zivile und militärische Komponente umfasst, wird nicht umgesetzt.
Unser Votum richtet sich nicht gegen die in Afghanistan eingesetzten Soldatinnen und Soldaten, sondern gegen die falsche Afghanistanpolitik der Bundesregierung.
Als Mitglieder des Bundestages fühlen wir uns unseren Soldatinnen und Soldaten und ihren Familien gegenüber dazu verpflichtet, einen Einsatz, der die Eskalation fördert und somit die afghanische Zivilbevölkerung ebenso wie die deutschen Einsatzkräfte auf unverantwortliche Weise einer größeren Gefahr aussetzt, abzulehnen.
Berlin, den 28. Januar 2011

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