Den Abgeordneten des AK 4 ein Brief zur Verlängerung des ISAF-Mandats

Liebe Leute,
drei Mitglieder der Berliner LAG Frieden und Internationales – darunter ich – haben heute den Abgeordneten des AK 4 einen Brief zur Verlängerung des ISAF-Mandats geschrieben.
Ich teile Euch den Text mit, da einige über den Abstimmungstermin hinausweisende Gedanken Euch möglicherweise interessieren könnten.
bündnisgrüne und friedliche Grüße,
Tobias Balke (E-Mail)
Liebe Bundestagsabgeordnete,
wir sind sehr unzufrieden mit Eurem Abstimmungsverhalten vor einem Jahr. Ihr habt damals aufgrund weitgehend gleicher Analysen drei einander ausschliessende Schlüsse gezogen. Aussenstehende mussten daraus folgern, dass Bündnis 90/Die Grünen zu Afghanistan zwar einige Meinungen hat, in seiner Willensbildung aber steckengeblieben ist und verwirrt und hilflos dem Geschehen zusieht.
Bitte einigt Euch diesmal auf eine geschlossene und entschlossene Haltung.
Basis sei der Konsens der gesamten Partei: der Strategiewechsel ist dringend nötig und muss schnell erreicht werden.
Ihr wisst es selbst: die gegenwärtige Bundesregierung denkt gar nicht daran, den von uns immer wieder dringend geforderten Strategiewechsel ernsthaft ins Auge zu fassen und bei unseren NATO-Partnerstaaten intensiv für dessen Realisierung zu werben. Die AfghanInnen verlieren immer mehr das Vertrauen zur und die Geduld mit der Regierung Karsai und der westlichen Allianz. Die US-Regierung betreibt eine De-facto-Fusion von ISAF und OEF unter US-Führung und US-Vorgaben, um im „Krieg gegen den Terror“ den Gegner einfach auszurotten. Sie plant die rasche Verlegung von US-Truppen aus dem Irak. Um die Risiken für eigene SoldatInnen zu minimieren, wird sie immer wieder und immer öfter feindliche Kämpfer aus sicherem Abstand bombardieren, bis die dabei massenweise mitgetöteten unschuldigen ZivilistInnen die USA und ihre Verbündeten noch verhaßter als die Taliban machen und der Aufstand allgemein wird.
Es droht ein Abgleiten in eine humanitäre und politische Katastrophe. Bereits in den nächsten 24 Monaten kann es dazu kommen, dass die Taliban und deren Verbündete auch im nördlichen Afghanistan einen Guerillakrieg führen und ihre Rückzugsräume ins pakistanische Landesinnere verlegen.
Bleiben dann die USA bei ihrer Kriegsstrategie, so müssten sich wohl in wenigen Jahren die afghanische und pakistanische Regierungen (und die Armeeführungen) entscheiden, entweder Rolle und Schicksal der südvietnamesischen Eliten zu teilen oder aber sich selbst an die Spitze des Widerstands zu stellen.
Die Folgen könnten für Millionen Menschen in der Region grauenhaft sein und die gesamten westlich-islamischen Beziehungen schwer belasten, besonders falls die USA die Beseitigung pakistanischer Atomraketen mit eigenen taktischen Atomwaffen („Mini-Nukes“) vornehmen sollte.
Die Möglichkeit derartiger ausserordentlich schwerwiegender Folgen fordert und rechtfertigt ausserordentliche Anstrengungen. Unser Ziel muss es sein, nicht nur Deutschland aus diesem Desaster herauszuhalten, sondern es überhaupt abzuwenden.
Die kommende – möglichst grünhaltige – Bundesregierung sollte sich mit möglichst vielen westlichen und mit möglichst vielen der 56 OIC-(Organization of the Islamic Conference)-Mitgliedsländern zu einer friedenserzwingenden Koalition vereinigen, um gemeinsam den Regierungen Afghanistans und der USA einen rettenden Ausweg aufzuzeigen (auch der pakistanischen, soweit sie dann Kriegspartei ist).
Kern sollte ein umfassendes europäisch-islamisches Angebot sein: die Zuschüsse und Truppen der USA voll oder grossenteils zu übernehmen, also den Einsatz an Menschen und Geld für mehrere Jahre stark zu erhöhen und dabei ausser hohen Kosten vor allem auch erhebliche Verluste an Leben und Gesundheit der eingesetzten SoldatInnen und zivilen HelferInnen zu tragen, bis die Sicherheit vollständig von afghanischen Kräften gewährleistet werden kann. Die gegenwärtig von den USA getragene Last müssten dann einige Dutzend Staaten zusammen tragen. Ein angemessener deutscher Anteil daran wäre so erheblich, dass für mehrere Jahre eine Aufstockung des Bundesetats und für Bundeswehrangehörige verlängerte „Stehzeiten“ ins Auge gefasst werden müssten.
Dieses umfassende Angebot sollte in jeder Hinsicht so gut ausgestattet werden, dass die USA es sowohl aus aussenpolitischen wie fiskalischen Gründen gern annehmen können. Es wäre von größtem, weit über die Region hinausstrahlendem Wert für die gesamte Weltinnenpolitik, wenn die Friedenskoalition die USA in eine tatsächlich multilaterale und friedenssichernde Afghanistan-Mission integrieren könnte, die Geist und Buchstaben der UN-Charta wirksam werden lässt.
Nichteuropäisch-nichtislamische Staaten könnten in die Friedenskoalition dann aufgenommen werden, wenn sie Ressourcen für eine konstruktive Beteiligung haben und nicht aus historischen bzw. geostrategischen Gründen die Friedenskoalition mehr belasten als fördern.
Die Friedenskoalition muss dann darauf bestehen, dass die USA OEF sofort beenden und für ISAF wesentlich anderen, mit dem Kriegsvölkerrecht vereinbaren Einsatzregeln zustimmen. Luft- oder Artillerieangriffe gegen von ZivilistInnen bewohnte Gebäude darf es nicht mehr geben. Gut disziplinierte und ausgebildete SoldatInnen sowohl der afghanischen als auch auswärtiger Heere müssen die Sicherheit der afghanischen Bevölkerung behutsam, wachsam und mit Augenmass wiederherstellen. Für die USA würde das bedeuten, für eine derartige Kriegführung ungeeignete SöldnerInnen und SoldatInnen abzuziehen und einer europäischen ISAF-Führung und/oder einer ISAF-Führung durch OIC-Mitglieder zuzustimmen.
Die Regierung Karsai wird beim sukzessiven Übergang ihrer Machtbasis auf die Zivilgesellschaft erhebliche Risiken auf sich nehmen müssen: sie hat – pestizidfrei und sozialverträglich – den Drogenanbau zu beenden. Damit wird sie nicht nur Taliban und anderen Aufständischen, sondern auch den Warlords der Nordallianz eine Haupteinnahmequelle entziehen. Deren Privatarmeen müssen aufgelöst und eine Reihe ihrer Anhänger aus Staatsämtern entfernt werden, um in Afghanistan Rechtsstaatlichkeit und Rechtssicherheit durchzusetzen. Wo internationale Garantien für Amnestieregelungen und großzügige Angebote der beruflichen Bildung und Weiterbildung, notfalls auch Pensionierung von Warlords und Warlordanhängern nicht angenommen werden, müssen sie gewaltsam entwaffnet werden. Die Friedenskoalition muss auch dafür militärische Unterstützung und ausserdem auch erhebliche Budgethilfen anbieten, damit der afghanische Staat seinen SoldatInnen, PolizistInnen, StaatsanwältInnen, RichterInnen und dem gesamten öffentlichen Dienst endlich existenzsichernde Gehälter zahlen kann, von denen sie ihre Familien ernähren können, ohne auf Bestechungsgelder angewiesen zu sein. Auch die Föderalisierung und Kommunalisierung des afghanischen Staatsaufbaus muss weitgehend von der Friedenskoalition finanziert und unterstützt werden.
Beiden Verhandlungspartnern – den Regierungen Afghanistans und der USA – (und gegebenenfalls auch der pakistanischen) muß die Friedenskoalition mit Deutlichkeit, Festigkeit und Konsequenz begegnen. Diese Verhandlungen werden hart werden.
Gelingen können sie nur dann, wenn die Friedenskoalition einerseits den hohen Mehrbedarf an SoldatInnen und Geld nachweislich aufbringen, andererseits aber eine glaubwürdige Drohkulisse präsentieren kann.
Alle Mitglieder dieser Friedenskoalition, die dann Truppen in Afghanistan stellen, müssen dabei den vollständigen Abzug dieser Truppen (natürlich nicht der zivilen HelferInnen) aus Afghanistan ankündigen und diese Ankündigung notfalls auch wahr machen – auch die Bundesrepublik Deutschland. Gleiches gilt für die möglicherweise notwendig werdende diplomatische Isolierung der USA.
Bei aller Großzügigkeit des Friedenskoalitions-Angebots ist seine Annahme doch nicht garantiert. Sollte es aber zum Schlimmsten kommen und die USA sowie die afghanische (gegebenenfalls auch die pakistanische) Regierung blind und stur in den Abgrund rennen, dann haben wenigstens alle Staaten der Friedenskoalition alles versucht, was in ihrer Macht lag. Dies kann entscheidend dabei helfen, den US-BürgerInnen das Unsinnige und Verwerfliche einer weiteren Kriegführung klar zu machen. Ausserdem hätte dann die Weltöffentlichkeit Vertrauen zu den Staaten der Friedenskoalition gefasst (und diese zu sich selbst). Sobald danach die USA ihr katastrophales Scheitern einräumen und Afghanistan (und Pakistan) verlassen, könnten die Staaten der Friedenskoalition gemeinsam alles tun, was für die Überlebenden dann zu tun ist.
Es liegt jetzt in Eurer Hand, rechtzeitig die politischen Voraussetzungen für zukünftige Verhandlungen aus einer derartigen Position der Stärke zu schaffen. Weist jede weitere Duldung des zum Scheitern verurteilten schwarzroten Stillhaltekurses eindeutig von Euch und stimmt mit „Nein“.
Dies ist zunächst eine ausgezeichnete Gelegenheit, im Vorfeld allen potentiellen Koalitionspartnerinnen klarzumachen, worauf wir im nächsten Koalitionsvertrag bestehen werden.
Vor allem aber rufen wir Euch auf, mit Eurer vereinten Stimmkraft der US-Regierung und der afghanischen Regierung diese unmissverständliche Warnung zuzurufen. Sie schliesst gleichzeitig ein großzügiges Angebot an das afghanische Volk und unsere Verbündeten ein und eröffnet einen schwierigen, aber realistischen Weg zum Frieden.
Stimmt Ihr mit „Nein“, kommt auf unsere Partei eine Riesenwelle von Missverständnissen und absichtlichen Missdeutungen zu.
Fasst Euch ein Herz. Setzt Euch gegen Unterstellungen zur Wehr. Gemeinsam werden wir sie widerlegen.
Euer Nein heisst Nein – Nein ebenso zur Ratlosigkeit der Koalitionäre wie Nein zur Kopflosigkeit der Linksfraktion, Nein vor allem zur drohenden Vietnamisierung Afghanistans und Pakistans. Eure konsequente Ablehnung der Kriegseskalation ist die notwendige Vorbereitung auf den friedensstiftenden Strategiewechsel.

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