Gastbeitrag von Peter Wahl, 22.4.2021, erstmals erschienen bei makroskop.eu
Das Narrativ vom Krieg als Zeitenwende, als singuläres Ereignis in Kategorien biblischer Kometen, leistet der Deeskalation des Konflikts einen Bärendienst. Der russische Einmarsch in die Ukraine war für Friedensengagierte und vor allem für linke Milieus nicht nur eine Überraschung, sondern auch ein regelrechter Schock. Er hat bei manchen zu einer so enormen Verunsicherung geführt, dass Fundamente des eigenen Denkens, wie das Axiom „Frieden schaffen ohne Waffen“ zu bröckeln beginnen und Panzerlieferungen der NATO an Kiew salonfähig wurden.
Die Schockwirkung beruht auf der Ent-Täuschung darüber, dass Russland jetzt genau die gleichen Methoden anwendet, deren der Westen sich schon lange bedient. Und wenn man sich getäuscht hat, ist es ja erst einmal ehrenwert, die eigenen Positionen in Frage zu stellen. Aber selbstkritische Überprüfung der eigenen Position ist eine Sache. Eine andere, sich ins Kielwasser der NATO zu begeben und den Weg zur Beendigung des Krieges in Kategorien von Sieg und Niederlage, statt politischer Verhandlungen und eines Kompromissfriedens zu sehen. Es kommt darauf an „weder von der Macht der anderen, noch von der eigenen Ohnmacht sich dumm machen zu lassen,“ wie Adorno in seinem Aphorismus aus den Minima Moralia formulierte. Denn das herrschende Narrativ verlangt ja nicht weniger, als diesen Krieg als Zeitenwende, als singuläres Ereignis zu nehmen, das weder in einen strukturellen Kontext – die Geopolitik der letzten zwei Jahrzehnte – noch einen konkreten historischen Zusammenhang – die postsowjetische Eskalationsgeschichte der Beziehungen Russland-Ukraine – eingebunden ist. Die Rede von der Zeitenwende denkt den Krieg in Kategorien biblischer Kometen, die vom Himmel stürzen und der Menschheit Außergewöhnliches verkünden.
Die politische Funktion ist klar: nur so kann man den russischen Angriff zum moralischen Absolutum erklären und damit einen gesellschaftlichen Konsens formieren, der die Rolle des Westens für sein Zustandekommen tabuisiert und die Strategie der weiteren Befeuerung und Eskalation des Krieges legitimiert.
Der Westen spielt auf Sieg. Denn nach sechs Wochen Krieg wird immer deutlicher, dass weder die USA/NATO noch die EU auch nur den geringsten Versuch unternehmen, mit Verhandlungsangeboten Druck auf Moskau auszuüben, um wenigstens einen Waffenstillstand und den Beginn von Verhandlungen zu erreichen. Dabei hatte die EU noch 2008 beim Fünftage-Krieg um Süd-Ossetien[1] einen Kompromiss zwischen Georgien und Russland vermittelt, der bis heute Bestand hat. Damals hatte Frankreich die EU-Präsidentschaft und es war Sarkozy, der die Verhandlungen führte.
Heute wird stattdessen mit Waffenlieferungen und der Eskalation des Wirtschaftskrieges – euphemistisch als „Sanktionen“ bezeichnet – weiter Öl ins Feuer gegossen. Die EU ist an der Seite der USA und der NATO Kriegspartei. Es zeichnet sich jetzt immer deutlicher ab, dass der Westen auf Sieg spielt. Siegfrieden – so ein Schlagwort, das im Ersten Weltkrieg eine große Rolle spielte – ist das strategische Ziel. Es geht darum Russland eine Niederlage zu bereiten, oder es mindestens maximal zu schwächen und innenpolitisch zu destabilisieren. Dazu kann man einen möglichst raschen Verhandlungs- und Kompromissfrieden nicht gebrauchen. Anscheinend sind zumindest Teile der ukrainischen Führung auch dieser Meinung. So sagte der ukrainische Botschafter in Berlin, Melnyk, im Interview mit der FAZ:
„Ich glaube, dass die Weltöffentlichkeit jetzt aufwachen und uns nicht mehr dazu zwingen sollte, diesen Krieg so schnell wie möglich zu beenden, eine Waffenruhe einzuführen, ohne Abzug der russischen Truppen.“ (6.4.2022; S.9)
Die Verlängerung des Krieges, noch mehr Opfer sowie das Risiko eines Kontrollverlustes werden dabei in gleicher Weise in Kauf genommen, wie Russland das tut. Das legitimiert nicht den russischen Einmarsch, aber es holt das offizielle Narrativ des Westens von seinem moralischen Podest herunter. Der humanistische Kern emanzipatorischer Friedenspolitik. Das Setzen auf Sieg steht im diametralen Widerspruch zu einer emanzipatorischen Friedenspolitik. Deren Kern besteht gerade darin, militärische Gewaltanwendung wegen ihrer Inhumanität prinzipiell abzulehnen. Denn es gehört zum Wesen des Krieges, das er die Normen der Zivilisation aufhebt, der Gewalt freien Lauf lässt und Hass und Brutalität von der Kette lässt. Krieg ist ein Rückfall in Barbarei – nicht nur in der Ukraine. Das beginnt mit der formellen Aufhebung des Tötungsverbots gegenüber dem Militärpersonal auf beiden Seiten, bis zur Relativierung des Tötungsverbots von Zivilisten als Kollateralschaden.
Erinnert sei in diesem Zusammenhang an eines von unzähligen Beispielen: dem Luftangriff im afghanischen Kundus im September 2009, befohlen vom Obersten der Bundeswehr, Georg Klein, fielen mindestens 91 Zivilisten zum Opfer, darunter zahlreiche Kinder. Versuche, das als Kriegsverbrechen zu ahnden, scheiterten vor mehreren Gerichten. Klein wurde inzwischen zum General befördert.
Dass im Medienzeitalter die Brutalisierung dann von jeder Seite auch noch propagandistisch ausgeschlachtet und politisch instrumentalisiert wird, gehört ebenfalls zur Kriegslogik. Der jeweilige Feind ist die Inkarnation des Bösen schlechthin, das jeweilige „Wir“ dagegen, das sind „die Guten.“ Auch das Argument, die Weltgemeinschaft dürfe das Verhalten Russlands nicht tolerieren, ist höchst problematisch. Und das nicht einmal primär, weil diese Weltgemeinschaft Fiktion ist, wenn man an die zumindest neutrale Haltung von Indien, China, Brasilien, Südafrika, Pakistan, Israel und zahlreichen anderen Länder denkt. Sondern weil es ein fundamentales Merkmal des internationalen Systems ist – im Unterschied zum Inneren der Staaten – keine oberste Gerichtsbarkeit und eine ihr folgende Exekutive zu haben.
Der UN-Sicherheitsrat, dem theoretisch diese Rolle zugedacht war, wird durch die Vetomächte blockiert, wenn deren vitale Interessen im Spiel sind. Der zentrale Regulationsmechanismus im internationalen System sind leider nicht die multilateralen Institutionen und das Völkerrecht, sondern die machtpolitischen Kräfteverhältnisse – vor allem an der Spitze der internationalen Hierarchie. Vor diesem Hintergrund ist es pure Anmaßung, wenn die NATO sich selbst zum Garanten des Völkerrechts ernennt. Al Capone als Richter und Polizist in einer Person bekämpft die Mafia! Das ist nicht die Position emanzipatorischer Friedenspolitik.
Eckpunkte eines Verständigungsfriedens Kriegsgegner haben schon vor dem 24. Februar immer wieder gewarnt, dass in der Ukraine Krieg droht.
Noch am 22.2. heißt es in einem Aufruf aus der Friedensbewegung:
„Die erneute Verschärfung der Krise unterstreicht, wie dringend Deeskalation und Diplomatie sind. (…) Mit immer weiteren Sanktionen und der Verstärkung militärischer Drohkulissen nach dem Motto ‚Auge um Auge, Zahn um Zahn‘ auf Sieg statt auf Entspannung zu setzen, führt näher an den Abgrund.“
Allerdings waren diese Stimmen ohne Einfluss, und zwei Tage später war der Krieg da.
Aber auch jetzt – und gerade jetzt – gilt für alle, denen ein Ende der Kriegsbrutalitäten tatsächlich das entscheidende Anliegen ist, Alternativen zu seiner Eskalation und seiner Fortsetzung stark zu machen.
Selbst wenn das zunächst weder Putin, noch Joe Biden und Selenskij beeindruckt, muss unserer Öffentlichkeit gegenüber demonstriert werden, dass es Alternativen zu Waffenlieferung und Wirtschaftskrieg gibt, und wie sie aussehen könnten. Nur so kann die Fixierung auf das Alles oder Nichts, Sieg oder Niederlage aufgebrochen werden.
Dabei hat Deeskalation absolute Priorität: militärisch, wirtschaftlich und an der Heimatfront von ARD bis ZDF, von FAZ bis TAZ. Dann muss die Akzeptanz für Kompromisse gefördert werden, denn in einem Verständigungsfrieden müssen alle Seiten von Maximalpositionen abrücken.
Auch Vorschläge für Vermittler, die für beide Seiten akzeptabel sind, sollten ins Spiel gebracht werden. Am ehesten kämen dabei neutrale Länder in Frage, zum Beispiel Indien.
Am Anfang von Verhandlungen stehen immer eine Waffenruhe und Gefangenenaustausch. Dann ist ein Gesamtpaket zu schnüren, das die Interessen beider Seiten, aber eben auch Kompromisse enthält. Im Zentrum des Abkommens müsste gegenüber Russland eine Garantie für die Neutralität der Ukraine stehen. Also keine NATO-Mitgliedschaft, auch nicht in verkappter Form. Gegenstück müsste der Rückzug der russischen Truppen sowie die Akzeptanz einer EU-Mitgliedschaft der Ukraine durch Moskau stehen, allerdings unter Ausklammerung von Artikel 42 der Verträge, der die militärische Komponente der EU-Mitgliedschaft betrifft. Wichtiger Teil eines Verhandlungsfriedens wäre dann ein internationales Wiederaufbauprogramm für die Ukraine, inklusive Donbass. Für den Status des Donbass wäre zunächst eine Autonomie anzustreben, überwacht durch UNO-Friedenstruppen. Nach einer Übergangszeit könnte eine Volksabstimmung über Unabhängigkeit oder Zugehörigkeit zur Ukraine oder Russland unter internationaler Aufsicht stattfinden. Als Modell könnte das Referendum im Saarland 1955 dienen, das bis dahin unter französischer Verwaltung stand, und bei dem sich die Mehrheit für die Zugehörigkeit zur Bundesrepublik entschied. Zug um Zug wären dann die Sanktionen abzubauen. Schließlich sollte der Westen die Zugehörigkeit der Krim zu Russland anerkennen, und Russland die Unabhängigkeit des Kosovo.
So oder so ähnlich könnte ein Kompromiss aussehen, der nicht nur den akuten Krieg beendet, sondern auch den Boden für einen dauerhaften Frieden in der Region bereitet. Denn an der geographischen Realität, dass Russland Nachbar der EU ist, wird sich nichts ändern. Will man nicht eine Erbfeindschaft, wie sie jahrhundertelang zwischen Deutschland und Frankreich herrschte, gilt es auf eine Nachkriegsordnung hinzuarbeiten, die mindestens eine friedliche Koexistenz ermöglicht.
[1] Der damalige georgische Präsident Saakaschwili hatte das Angebot des NATO-Gipfels vom April 2008, die Ukraine und Georgien in die Allianz aufzunehmen, als Blankoscheck interpretiert, und im August versucht, die abtrünnige Provinz Süd-Ossetien militärisch zurückzuerobern. Der Angriff wurde durch russische Truppen zurückgeschlagen, die – damals unter der Präsidentschaft Medwedjews – dann in Richtung Tiflis vorrückten. Der von Sarkozy vermittelte Kompromiss stellte den status quo ante her.
Peter Wahl hat Romanistik und Gesellschaftswissenschaften in Mainz, Aix-en-Provence und Frankfurt/M. studiert. Er ist Mitbegründer von Attac und arbeitet zu internationalen Beziehungen und Geopolitik.
1 Kommentar
endlich kommt hier einmal die Vernunft und auch die Menschlichkeit zum Tragen. Ich kann jeden Satz in dem Artikel voll unterschreiben