von Bernhard Trautvetter, 10.3.2023
Der Ukraine-Krieg steigert die Atomkriegsgefahr in mehrfacher Hinsicht:
Diese Gefahr ergibt sich aus der nuklearen Infrastruktur sowie aus dem Grund, dass mit Russland ein Staat direkt ins Kriegsgeschehen einbezogen ist, der eine Atommacht ist.
Die nuklearen Arsenale der Russischen Föderation sind eine Gefahrenquelle, die von der Art, die John F. Kennedy kurz nach dem Ende der Kuba-Krise zu dieser Warnung veranlasste: „Vor allem müssen (…) die Atommächte jene Konfrontationen vermeiden, die einen Gegner vor die Wahl stellen, entweder einen demütigenden Rückzug hinzunehmen oder einen Atomkrieg. Ein solches Vorgehen wäre im Atomzeitalter nur ein Beweis für den Bankrott unserer Politik – oder für einen kollektiven Todeswunsch für die Welt.“ [1]
Die weitere unmittelbare Gefahrenquelle ergibt sich auch aus der Tatsache, dass die fünfzehn Atomreaktoren an vier Standorten in der Ukraine durch Kriegsfolgen Gefahr laufen, zu einer Atombombe zu werden. Nato-Staaten, allen voran die USA haben trotz ihrer umfassenden Kenntnis des Bedrohungspotentials, das von Atomanlagen im Kriegsgebiet [2] ausgeht, die Ukraine mit zig Milliarden Militärhilfe aufgerüstet. [3] Wenn im Verlauf einer Havarie eine Kernschmelze eintritt, werden riesige Gebiete Europas, auch des europäischen Teils Russland, auf Dauer unbewohnbar machen kann,
Die Eskalationsdynamik verdeutlicht auch die Tatsache, dass die US-Armee in Polen und Rumänien Raketenabwehr – also offiziell als Defensivsysteme – stationiert hat, die allerdings mit wenigen Modifikationen in nukleare Offensivsysteme [4] umgerüstet werden können, die für Atomschläge leicht nutzbar sind.
Nach Nato-Generalsekretär Stoltenberg begann der Ukraine-Krieg nicht am 24.2.2022 [5] mit der russischen Invasion in die Ukraine, sondern bereits acht Jahre zuvor. Seitdem hat die Nato das Land militärisch für die Eskalation gestärkt. Und ein Ende der Eskalationsdynamik zeichnet sich derzeit nicht ab, im Gegenteil.
NEUE ATOMTECHNOLOGIEN
Und die weiter gesteigerte Gefahr ergibt sich aus der Tatsache, dass neue US-Arsenale, die seit Ende 2021 – also vor der Invasion Russlands in die Ukraine – unter anderem in Deutschland in Stellung gebracht wurden. Es handelt sich hier um nukleare Sprengkörper mit Zielfindungstechnik und variabler ‚Dosierbarkeit‘. Sie benötigen eine so wenige Minuten umfassende Flugzeit Richtung Russland , dass die Alarmsysteme der russischen Armee keine reale Zeit mehr haben, um zu überprüfen, ob es sich im Moment eines Alarms um einen technischen Fehler handelt oder nicht. Die neuartigen US-Nuklearsprengköpfe ‚B 61-12‘ sind – wie weiter unten dargelegt ist – durch ihre technische Konstruktion, Systeme, die für eine Eröffnung des Atomkriegs geeignet und zwar mit einem als Präventivschlag kommunizierten Enthauptungsschlag. Noch relevanter wird dieser Zeitfaktor, der zur unverantwortlich gesteigerten Gefahr eines Atomkriegs aus Versehen führt, wenn in Kürze die US-Hyperschall-Trägersysteme ‚Dark Eagle‘ in Deutschland in Stellung kommen, die noch weit schneller fliegen, als dies das bei Atombombern der Fall ist.
Die Nuklearrüstungs-Konzeption der US-Armee folgt sehr genau den konzeptionellen Eckpfeilern der Im Jahr 1983 vom US-Militärstrategen Colin S. Gray veröffentlichten Victory is possible–Strategie [6] für die Aussicht, einen Atomkrieg trotz Millionen von meistenteils schwer Verletzten sowie Toten als Staat überleben zu können und dabei den Vorteil zu erzielen, eine zum Feind erklärte Macht ausschalten zu können. Colin S. Gray plädierte im Einzelnen für „eine intelligente amerikanische Offensivstrategie, in Verbindung mit Heimatverteidigung, die Verluste auf etwa 20 Millionen Menschen (zu) reduzieren … Eine Kombination von Entwaffnungsschlag, Zivilschutz und einem Abwehrsystem … müsste die US-Verluste so niedrig halten, dass ein nationales Überleben und Wiederaufbau möglich sind“.
Zu diesen drei Säulen zählt das schon erwähnte Raketenabwehrsystem, das die NATO seit Jahren in Osteuropa [7] schrittweise auf- und ausbaut.
Die für einen möglichen Enthauptungsschlag einsetzbaren Arsenale wie die seit Ende 2022 [8] in Büchel bei Koblenz stationierten Nuklearsysteme B 61-12 gelten aufgrund ihrer ‚differenzierten‘ Dosierbarkeit der Wirkung und aufgrund ihrer Zielfindungstechnik [9] (sie sind keine reinen Fallbomben, sondern sie finden ihr Ziel in der Schlussphase ihres Angriffsfluges selbstständig) laut US-General Cartwright als besonders ‚gebrauchsfreudig‘: Ihre technischen Fähigkeiten bedeuten, dass sie Kommandozentralen und Nuklearbunker möglicher Gegner in einem minutenschnellen Angriff ausschalten können – das ist der Enthauptungsschlag. Die kurze Flugzeit ihrer Trägersysteme bedeutet, dass der angegriffene Staat keine Zeit mehr hat, um über eine effektive Gegenreaktion zu beraten und um zu überprüfen, ob kein Fehlalarm vorliegt: Die Trägersystem für die B 61-12 sind zum einen der Tarnkappenbomber F 35, der das Radarecho eines unbedeutenden Flugobjektes an die Atom-Alarm-Systeme Russlands oder Chinas absendet – diese Atombomber, die für die Aufnahme, den Transport und für den Einsatz der B 61-12 ausgelegt sind, hat Bundeskanzler Scholz als Element des 100 Mrd.-‚Sonderprogramms‘ und damit als Reaktion auf den Ukrainekrieg kommuniziert.
DIE BEDEUTUNG DER GEOGRAFISCHEN NÄHE
Zur Legitimierung der Stationierung von Hyperschall-Raketen mit dem Namen „Dark-Eagle“ verweist die Nato darauf, dass auch Russland derartige Systeme hat; das ist so zutreffend wie manipulativ: Dieses Argument wäre dann valide, wenn Russland derartige Systeme vergleichbar nahe an der US-Südgrenze und –Küste aufstellen würde.
Die militärische Bedeutung einer Waffe ergibt sich nicht nur aus ihren technologischen Zerstörungs-‚Fähigkeiten‘, sondern – wie es einst die Kuba-Krise zeigte, auch aus der Geografie: von wo aus eine feindliche Waffe das eigene Staatsgebiet bedroht. Ein russischer Angriff auf die USA über einen der großen Ozeane hätte längst nicht die Überfall-artig kurze Flugzeit wie ein vergleichbares US-Arsenal innerhalb des europäischen Kontinents.
Im Verlauf der Kuba-Krise drohte Kennedy mit einem Atomschlag, die USA würden solche Arsenale vor ihrer Haustür nicht hinnehmen. Aktuell riskiert die NATO mit ihrer Expansionspolitik unter Einbezug der Nuklearstrategie eine umgekehrte Kuba-Krise, in deren Verlauf sie Russland zum Alleinverantwortlichen für die Steigerung der Gefahr deklariert. Als die UdSSR Nuklearraketen auf Kuba stationierte, drohte US-Präsident John F. Kennedy mit dem Atomschlag, sollten diese Arsenale nicht aus der Nähe des US-Territoriums verschwinden.
Passend zur Kombination aus „Dark Eagle“ und B 61-12, also zur Erstschlags-Konzeption der US-Armee als Führungsmacht der NATO drängen NATO-Partner aktuell darauf, die Strategie eines ‚vorsorglichen‘ (preemptiven) Atomangriffs beizubehalten. [10]
Alles in allem generiert die Nato/USA hier ein Risiko, das niemand das Recht hat einzugehen.
Umgekehrt ist vor verantwortungslosen Reaktionen Russlands zu warnen: Wie aktuell diese Gefahr ist, offenbarte eine Äußerung Wladimir Putins im Herbst 2022 [11], in der er von einer ‚nuklearen Erpressung‘ des Westens sprach und ankündigte, „natürlich alle uns zur Verfügung stehenden Mittel einzusetzen, um Russland zu schützen. Das ist kein Bluff.“
Die Nuklearsysteme der russischen Armee bei Kaliningrad stellen ein Bedrohungspotential für den Weltfrieden dar, das keine Friedenskraft jemals hinnehmen kann und wird.
Umgekehrt gilt: Die Diskussion über die Verlagerung nuklearer Angriffssysteme unmittelbar in die Nähe Russlands verläuft in der Nato [12] schon länger. Eine Bemerkung der amerikanischen Botschafterin in Warschau, man könne diese B61- auch nach Polen [13] holen, sorgt nun für Wirbel.
Nachdem Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg am 19. November 2021 erklärt hatte, dass nukleare US-Bestände in osteuropäische NATO-Länder verlegt werden könnten [14], steigerte die Ukraine-Krise, der dort seit 2014 tobende Krieg und die Eskalation ab dem 24.02.2022 die Gefahr, was dazu führte, dass die kritischen Nuklearwissenschaftler ihre Weltuntergangsuhr zur Warnung vor dem Atomkrieg auf die kürzeste Zeit vor der ‚Stunde Null‘, nämlich 90 Sekunden vor dem Inferno vorgestellt haben. Erster Anwärter für eine solche Umgruppierung von Nuklearwaffen war stets Polen, das eine solche Verlagerung seit Längerem nicht nur für möglich, sondern auch wünschenswert hält.
CYBER-ANGRIFFE ALS NATO-BÜNDNISFALL?
Hinzu kommt die destabilisierende Wirkung der Möglichkeiten, über das Internet Angriffe schnell und unentdeckt lancieren zu können, die bis zum Atomkrieg führen können:
Der Brüsseler NATO-Gipfel im Juni 2021 erklärte [15]:
“Die in der Allianz zusammengeschlossenen Staaten stellen fest, dass die Auswirkungen erheblicher böswilliger und kumulativer Cyber-Aktivitäten unter bestimmten Umständen einem bewaffneten Angriff gleichkommen können.”
Das bedeutet, wenn die NATO-Militärs ein Ereignis im Netz als Angriff wahrnehmen, dann sehen sie sich dazu legitimiert, in einen Krieg im Netz, zu Land, im Wasser und zur Luft einzusteigen. So sieht Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg den Cyber-Raum als immer präsenter für die militärischen Konflikte [16] an, und dabei erkennt er China als besonders gefährlichen Akteur – „Die meisten Krisen heute haben auch eine Cyber-Dimension“. [17]
Bei einem von den Warnsystemen gemeldeten Angriff im Netz können die Alliierten … den Bündnisfall ausrufen:
“Die Ausrichtung des Bündnisses müsse sich verändern, weil die Wirklichkeit sich verändere, so sieht es Generalsekretär Stoltenberg. Die Sicherheitslage sei herausfordernder geworden, die Welt unberechenbarer, und die Machtkämpfe nähmen zu. Auch im Netz und im Weltall“ [18].
Wie hier die Gefahr greifbar wird, dass ein (Atom-)Krieg aus Versehen entflammt, das macht der Physiker Wolfgang Stieler [19] klar:
„Wenn solche Viren oder Trojaner auftauchen, kann man kaum feststellen, wer die eigentlich in wessen Auftrag losgeschickt hat. Im Vergleich zu dem dann vorstellbaren Chaos könnte der Kalte Krieg als eine richtig geregelte Angelegenheit erscheinen. Man kann sich ein Szenario vorstellen, nach dem irgendwelche Trojaner oder Viren auf Rechnern im Pentagon auftauchen. Die USA sagen zum Beispiel: ‚Die Chinesen haben uns angegriffen‘. Über die NATO könnte dann für Deutschland der Verteidigungsfall gegeben sein. … In den USA gibt es in den Reihen von Computer-Sicherheitsfirmen bereits Stimmen, die sagen, wir befänden uns längst im ‘Cyberwar’. Selbst wenn das nicht stimmt, ist es trotzdem plausibel zu sagen, dass relativ viele Staaten sich im Moment aktiv auf eine solche Auseinandersetzung vorbereiten. Auf einer Zeitskala von fünf bis zehn Jahren halte ich es für sehr wahrscheinlich, dass da größere Auseinandersetzungen passieren.”
FAZIT
Wenn die Menschheit überleben soll, und dafür steht die Friedensbewegung ein, ist die atomare Abrüstung zwingend. Alle Atommächte stellen sich gegen den UN- Atomwaffenverbotsvertrag und riskieren alleine schon dadurch mit noch so hehren Propagandaworten die Zukunft der Gattung Mensch auf der Erde. Sie stellen eine der großen Zukunftsgefährdungen dar und verkaufen ihre brandgefährliche Strategie als Sicherheitspolitik. [20]
Um eine glaubwürdige Sicherheitsagenda durchzusetzen, geht die Friedensbewegung gegen die nukleare Bedrohung gemeinsam vor.
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Bernhard Trautvetter, Sprecher des Essener Friedensforums, Mitglied im Bundesausschuss Friedensratschlag, Co-Redaktion des Appells für den Frieden, Erstunterzeichner.
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Anmerkungen:
[1] https://www.quotescosmos.com/quotes/John-F.-Kennedy-quote-111.html, ohne Datum, 10.3.2013.
[2] https://gruene-linke.de/2022/09/04/der-kleine-atomkrieg/, 4.9.2022, 10.3.2023.
[3] https://www.nzz.ch/international/ukraine-krise-was-der-westen-kiew-an-waffen-geliefert-hat-ld.1666637?reduced=true, 9.2.2022, 10.3.2022.
[4] https://www.imi-online.de/2016/06/20/atomare-muskelspiele-die-nukleare-offensive-der-nato/, 20.6.2016, 10.3.2023.
[5] https://www.berliner-zeitung.de/politik-gesellschaft/es-begann-2014-wie-die-nato-den-krieg-russlands-in-der-ukraine-sieht-li.317773, 14.2.2023, 10.3.2023.
[6] https://archive.org/details/victory_is_possible/page/27/mode/2up, o.D., 10.3.2023.[
7] https://www.dw.com/de/nato-treibt-raketenabwehr-in-osteuropa-voran/a-19255769, 13.5.2016, 10.3.2023.
[8] https://www.pi-news.net/2022/10/neue-atombomben-zum-erstschlag-fuer-buechel/, 31.10.2023.
[9] https://www.airforce-technology.com/projects/b61-12-nuclear-bomb/, 6.11.2020, 10.3.2023.
[10] Nachdenkseiten, Quelle entfernt
[11] https://www1.wdr.de/nachrichten/putin-atomkrieg-atombombe-ukraine-russland-100.html, 22.9.2022, 10.3.2023.
[12] https://www.swp-berlin.org/10.18449/2020S11/, 28.5.2022, 10.3.2023.
[13] https://www.diepresse.com/5816361/andeutung-verlegung-von-us-atomwaffen-nach-polen, 20.5.2020, 10.3.2023.
[14] https://www.freitag.de/autoren/nikita-gerasimov/nato-aufruestung-polen-als-stationierungsland-fuer-kernwaffen, 16/2022, 10.3.2023.
[15] Nachdenkseiten, Quelle entfernt
[16] https://www.rnd.de/politik/nato-generalsekretar-jens-stoltenberg-im-interview-ich-bin-fur-eine-globalere-nato-JQ4PZWC6XZFQ7KCTSFK5HZHESE.html, 13.7.2020, 10.3.2023.
[17] https://www.deutschlandfunk.de/nato-verteidigungsministertreffen-nato-erklaert-cyberspace-100.html, 16.6.2016, 10.3.2023.
[18] Nachdenkseiten, Quelle entfernt
[19] Nachdenkseiten, Quelle entfernt
[20] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/stoltenberg-nato-generalsekretaer-ukraine-krieg-russland-100.html, 29.4.2022, 10.3.2023.