Zeitautonomie

Werner Hager, 24. September 2015

Die aktuelle Debatte über Zeitautonomie ist eine Debatte über Arbeitszeit. Arbeitszeit ist im Kapitalismus ähnlich dem Lohn eine umkämpfte Angelegenheit. Der Kampf um den Normalarbeitstag, um die Ausdehnung der Arbeitszeit, ist ein Konflikt zwischen Arbeit und Kapital.

Bei dieser Auseinandersetzung geht es einerseits um die absolute Ausdehnung des Arbeitstages (z.B. die Forderung nach einer 35 Stunden Woche), andererseits aber auch um die Schaffung relativen Mehrwerts, ergo Arbeitsverdichtung bzw. -effektivierung.
Idealtypischerweise sollten diese Auseinandersetzungen zwischen Arbeit und Kapital ausgetragen werden. In Deutschland sollte dies zwischen den Institutionen der ArbeitnehmerInnen und ArbeitgeberInnen erfolgen. Dies ist in einigen Bereichen auch tatsächlich der Fall, insbesondere im Bereich der stark organisierten Schwerindustrie.
Bei der Mindestlohndebatte zeigte sich, dass abgesehen von diesen wenigen Sektoren der Organisationsgrad nicht ausreichte, um Armutslöhne zu vermeiden, dass beispielsweise die Dienstleistungsgewerkschaft verdi teils Abschlüsse von Stundenlöhnen unter 5 Euro akzeptiert hatte. Daher waren zunehmend Gewerkschaften bereit, Mindestlöhnen zuzustimmen.
D.h. es wurde akzeptiert, dass die Politik in den Bereich eingreift, der den Tarifpartnern vorbehalten ist.
Ein ähnlicher Fall liegt nun bei der Arbeitszeit vor. Auch hier gelingt es den Gewerkschaften nicht, annähernde Vollbeschäftigung* herzustellen, die Grundbedingung für eine Aushandlung des Normalarbeitstages ist.
Erschwerend kommt hinzu, dass die Flexibilisierung der Arbeitszeit eine Messung derselben verkompliziert, die Messung auch auf Seiten der ArbeitnehmerInnen als Eingriff in die persönliche Freiheit angesehen wird und zudem eine Praxis nichterfasster und nichtbezahlter Überstunden existiert.
Insofern kann ähnlich dem Mindestlohn staatlich mit Maximalarbeitszeiten und einer scharfen Kontrolle und Einschränkung von Überstunden eingegriffen werden. Hier möchte ich auf die Möglichkeit verweisen, Überstunden zumindest an den Sozialversicherungsleistungen zu beteiligen.
1984 scheiterte in Deutschland die Einführung der 35 Stunden Woche. Trotz demographischem Wandel hat sich seitdem die Produktivität derart massiv erhöht, dass eine noch deutlich stärkere Absenkung der Wochenarbeitszeit notwendig wäre, um zu Vollbeschäftigung* zu gelangen. Der 1984 eingeschlagene Weg, stattdessen auf Wachstum zu setzen, ist heutzutage weder machbar noch wünschenswert.
Bereits in der damaligen Situation setzen Grüne jedoch nicht auf die Verhandlungskraft der Gewerkschaften, sondern auf Forderungen nach einem garantierten Mindesteinkommen, um Arbeitszeitsouveranität herzustellen. Andere Ansätze waren Arbeitszeitkonten oder Sabbatjahre.
Diese Ansätze haben den Nachteil, eine gesellschaftliche Funktion – die Aushandlung der Arbeitszeit – zu verstaatlichen. So wird darauf verzichtet, die Ideologie der Volkswirtschaftslehre anzugreifen, Arbeitszeitaushandlung wäre die freie Entscheidung der Individuen, zwischen dem Nutzen des Arbeitslohns und dem Nutzen der Freizeit vermeintlich zu entscheiden. Stattdessen werden Bedingungen hergestellt, in denen dies annähernd gilt.
Falls dieser Ansatz weiter verfolgt werden soll – und die mangelnde Resonanz der letzten Jahrzehnte, wieder über Arbeitszeitverkürzung zu reden spricht dafür – schlage ich vor, durch eine Besteuerung langer Arbeitszeiten inklusive Überstunden und gleichzeitige Entlastung kurzer Arbeitszeiten lange Arbeitszeiten unattraktiv zu machen. Ein Ansatz wäre ebenfalls, Sozialabgaben bei hohen Wochenarbeitszeiten progressiv steigen zu lassen.
Eine Wiederherstellung eines gesellschaftlichen Ansatzes zu Arbeitszeitpolitik ist die notwendige Voraussetzung, um überhaupt wieder über emanzipatorische Politik reden zu können. Die Zeit drängt, da die Rahmenbedingungen hierfür weiterhin immer schlechter werden.
Anders als im Fordismus werden weltweit und auch in Europa große Teile der Bevölkerung als Arbeitskräfte überflüssig. Diese stellen strukturell eine Reservearmee dar, die Druck auf die bestehenden ArbeitnehmerInnen ausübt. Unter diesen Bedingungen ist ohne drastische Kursänderung mit einer weiteren Entsolidarisierung zu rechnen.
 
* Unter Vollbeschäftigung wird hier das Fehlen ungewollter Beschäftigungslosigkeit verstanden.

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