Aufruf zur Selbstreflektion von Arfst Wagner

Arfst Wagner – in der letzten Wahlperiode Bundestagsabgeordneter von Bündnis90/die Grünen
Zur EU, Europa, Ukraine und uns selbst
„Hitler stieß in das Vakuum. Hitler ist weg, das Vakuum ist geblieben. Die heutigen Brände sind Zeichen einer untergehenden Welt, Brände, die nicht verlöschen werden, bevor sie diese untergehende Welt verzehrt haben“. So etwa, aus dem Gedächtnis rekapituliert, schrieb einmal Friedrich Heer über die 68er-Unruhen in seinem Buch „Gottes Erste Liebe – die Juden im Spannungsfeld der Geschichte“.
Einstein, Heisenberg und Bohr waren sich darin einig, dass wir ein „Neues Denken“ brauchen, und das die Probleme von heute und morgen nicht mit dem Denken von gestern zu bewältigen sind.
Mich hat sehr geärgert, als vergangene Woche Bernd Lucke von der AfD auf die Frage, wie er die Chancen seiner Partei zur nächsten Bundestagswahl einschätze, antwortete: „Wenn die anderen Parteien weiterhin die Sorgen der Bürger so wenig ernst nehmen, dann steigen unsere Chancen beträchtlich“. Wie recht er, leider, damit hat!
Und wo ist das „Neue Denken“ angesichts des zunehmenden Zuspruchs für rechte Parteien in Europa? Machen wir als Grüne mit, wenn, angesichts der zunehmenden Arbeitslosigkeit in Europa, die herrschenden Parteien weiterhin die absurde Wachstumskeule schwingen: „Dies und das schafft Arbeitsplätze“? Mit diesem Satz kann man offenbar inzwischen alles begründen.
Machen wir als Grüne mit, wenn die Welt in eine archaische West-Ost-Spaltung treibt? In der Auseinandersetzung mit Putin liegen zwei zentrale Probleme: das eine ist Putins Agieren, dass andere kommt aus uns selbst: Putin erzeugt in uns, in unserem („westlichen“) Denken eine Reaktion, die ins alte Denken zurücktreibt: in das Klischee von West und Ost. Da gab es doch mal einen György Konrad, einen Adam Michnik und andere, die auf die Notwendigkeit einer „Mitte“ hinwiesen. Mit dieser „Mitte“ war jedoch nicht Koestlers Ansatz von 1954, nämlich die Bildung einer eigenen europäischen Armee gemeint, die er als einzige Möglichkeit diesbezüglich in Betracht zog. Und ob es die Bildung einer EU ist, die aus dem Interesse gestaltet wurde, eine eigene Wirtschaftsmacht gegenüber West und Ost zu schaffen, kann bezweifelt werden. Wir haben die „Krönungstheorie“ verworfen, die Bildung einer Europäischen Gemeinschaft aus dem Kulturgedanken heraus, über die Gestaltung einer politischen Union hin zu einer solidarischen Wirtschaftsgemeinschaft mit einer Einfünhrung des EURO als letztem Schritt. Wir haben den letzten Schritt zuerst gemacht, das ist eine Tatsache. Schröder hat sich mit seiner „Hebeltheorie“, die er damals in den Satz gepresst hat: „Wir müssen Europa durch die Einführung des EURO zum Zusammenhalt zwingen“, durchgesetzt.
Wir verwenden als Grüne offenbar auch inzwischen die gleichen verhängnisvollen Vokabeln, in denen ein tiefes Missverständnis ruht. Wir sprechen auch von „Europawahlen“ und diskriminieren damit europäische Länder, die auf der Party nicht dabei sind: Norwegen, Schweiz, Mazedonien, Moldawien, Bosnien, Serbien. Ja, und sogar Russland ist geografisch bis zum Ural Europa. Beim Fussball und beim ESC (Eurovision Song Contest) sind wir weiter als die Politik. Die EU spaltet als Konkurrenzunternehmen Europa. Klar kann man sagen: Diejenigen, die nicht mit dabei sind, haben ja selbst schuld. Aber mir geht es hier erstmal gar nicht um eine Schuldfrage. Mir geht es um unser europäisches politisches Bewusstsein, aus dem heraus wir handeln.
Die EU ist nicht Europa, weder geografisch, noch kulturhistorisch noch ethisch. Vielleicht wird sie es einmal werden. Das ist jedenfalls meine Hoffnung. Deshalb ist es auch falsch, angesichts der Wahlen vom letzten Wochenende von „Europawahlen“ für das „Europaparlament“ zu sprechen. Wer das tut, diskriminiert die, die eben nicht dabei sind. EU-kritisch sein bedeutet nicht ad hoc, Europa-kritisch sein.
„Europa“ steht für individuelle Menschenrechte, gleich welcher Nationalität, Hautfarbe und welchen Geschlechts. „Europa“ steht für das dialogische Prinzip und für individuelle Freiheitsrechte (für alle Menschen) und für eine Denkkultur, die in der Lage ist, das eigene Handeln dialektisch-selbstkritisch zu betrachten. Jeder Mensch, der das tut und lebt, ist Europäer, egal, wo er auf der Welt geboren ist und welche Eigenschaften er auch sonst noch so hat.
Putin versucht jetzt, eine eigene eurasische Wirtschaftsmacht zu bilden. Seine Karten sind, auf die Zukunft hin, schlecht. Russland ist in vieler Hinsicht ohne gute Kontakte zur (von ihm aus gesehen) westlichen Welt nicht überlebensfähig. Daraus entstehen möglicherweise noch gravierendere Probleme, als die jetzigen. Eine andere Wirkung der Putin`schen Politik entsteht aber ganz woanders: in uns selber. Da wir das selbe Spiel mitspielen, dass der Westen und der Osten uns vormachen, nämlich eine Gesellschaft aufzubauen, die zentral auf wirtschaftliche Interessen fixiert ist und die bereit ist, diese Fixierung mit militärischen Mitteln zu verteidigen, treten wir in Konkurrenz zu Putin und, natürlich, auch zu den USA. Daraus enhtsteht eine neue „Mittellage“, die allerdings mit der, die Konrad und Michnik sich wünschten, nur so viel gemeinsam hat, als sie ihr Gegenteil darstellt.
Um es einmal in einem einfachen Bild auf den Punkt zu bringen: Fahre ich als EU-Bürger zu Gesprächen nach Moskau, dann bin ich (derzeit) Konkurrent. Fahre ich als Europäer, dann komme ich als Schwester oder Bruder.
Ich erinnere mich sehr genau an die Leitartikel von Herbert Kremp in der Zeitung „Die Welt“ zur Zeit der Pershing-Debatte in den 80er Jahren. Er schrieb: „Jede Emanzipation vom Westen (damit meinte er die USA), jeder Meter Abrücken aus einem westlichen Bündnis heisst: einen Werst tiefer in die Abhängigkeit von Russland zu geraten. DAZWISCHEN LIEGT NICHTS!“
Dieses „Dazwischen liegt nichts“ hat mich seither umgetrieben. Ich wünschte mir seither ein Europa, wie ich es oben beschrieben habe. Und ich wünschte mir eine Europäische Union, die eine Wirtschaftsform entwickelt, die wir hier gerne als „solidarische Wirtschaft“ bezeichnen. Stattdessen haben wir, aus „altem Denken“ heraus, eine konkurrierende Wirtschaft und ein „Europa“, dass sich nach außen abgrenzt. FRONTEX ist da eine nur natürliche Konsequenz. Und die anderen Lebensbereiche, furchtbarerweise auch die Bildung, dienen diesem rein ökonomischen Ansatz, was diejenigen, die gar nichts anderes kennen, schon für total normal halten.
Ich würde, angelehnt an Friedrich Heers obige Aussage, einmal formulieren: die FDP (bzw. der nackte Neoliberalismus) ist verwelkt. Allerdings ist die Saat gestreut. Und sie füllt das Vakuum. Die AfD als die „neue FDP“. Cem Özdemirs Wunsch, uns Grüne zur „neuen FDP“ zu machen, wird hier karikiert. Ich selber war kein Freund dieser Formulierung, weil sie sehr missverständlich ist. Ich dachte nur, ich sage ja auch nicht: „Wir sind die neue „Titanic“. Das „alte Denken“ sagt: „Du willst doch auch nach oben?“ und vergisst, dass in einer konkurrierenden Welt nur dann oben ein Platz frei wird, wenn andere dafür nach unten gestoßen werden.
Was charakterisiert denn ansonsten ein „neues politisches Denken“, das wir offenbar brauchen? Was heißt „neuer Politikstil“? Was heißt „eine neue Politik ist möglich?“ Heißt das wirklich nur: Regierungswechsel? Natürlich nicht. Es heißt in erster Linie, nicht in die Cluster des Kalten Krieges zurückfallen. Durch Putins Politik wirkt eine Kraft, die uns genau dorthin zurückstoßen will. Und manche sehen dieses Zurückfallen mal wieder als „alternativlos“ an. Realpolitik würde jetzt auch berücksichtigen, dass wir Russland als Brücke zu Asien brauchen, so wie Russland uns braucht, um nicht auf Dauer vollständig von China abhängig zu werden, eine der größten Sorgen russischer Politik. Die Ukraine ist in die „alternativlose Wahl“ zwischen „entweder Ost oder West“ hineingestoßen. Die Folgen sehen wir heute. Eine funktionierende Mitte, die z. B. mit dem Begriff „Europa der Regionen“ vorgegaukelt wird, würde, zu Ende gedacht, eine weitere Alternative bieten.
„Neuer Politikstil“ heißt auch: Parteiübergreifendes Denken, ein anderer Umgang mit Menschen, auch mit Macht, selbst in der eigenen Partei. Und nichts schützt JedeN von uns mechanisch vor Selbstüberhebung, übertriebenen Machtgehabe, Herabsetzung anderer, wenn der eigene Posten in Gefahr ist. Auch automatisches Parteiengebashe stammt nicht aus „neuem Politikstil“.
Moldawien, Bosnien, Türkei sind nicht nur ökonomisch möglicherweise interessant: Wir brauchen diese Länder und ihre Menschen als Dolmetscher gegenüber Russland, gegenüber dem Nahen Osten und der muslimischen und arabischen Welt.
Mir schrieb vor Tagen eine Freundin aus Bosnien: „Angesichts der Europawahlen freuen wir uns natürlich für Euch über die relativ gute Wahlbeteiligung und auch für den großen Zuspruch zu Europa. Wir hier in Bosnien fühlen uns allerdings in letzter Zeit immer weniger als Europäer. Wir suchen inzwischen eine andere Orientierung.“
Das Lesen dieser Sätze hat mich erschüttert. Gerade auch in Erwartung des 28. Juni 2014, dem 100. Jahrestag des Attentats an der Lateinerbrücke in Sarajevo. Vor uns liegt ein bildungspolitischer, sozial- und wirtschaftspolitischer Quantensprung, ansonsten brennen in ein paar Jahren die Straßen in Europa. In einigen Ländern (Griechenland und Spanien) ist es bereits Alltag. Frankreich wird wahrscheinlich in ein politisches Chaos stürzen. Von der Ukraine muss ich nicht reden.
Mit dem ein oder anderen des von mir hier Geschriebenen stimmen manche von Euch vielleicht nicht überein. Ich möchte auch eigentlich durch diese Gedanken nur eine grundsätzliche Frage stellen: Kann es sein, dass in „Europa“ irgendetwas grundsätzlich nicht in Ordnung ist? Und dass wir uns selbst fragen sollten, was?
Das Aufkommen der Rechten in Europa verweist auf das Versagen der Demokraten. Es zeigt auf uns. Und uns GRÜNEN stand es noch nie an, Probleme schönzureden.
Als Bismarck sein Reich 1871 gründete, schrieb Friedrich Nietzsche in einem seiner lichten Momente: Da wird ein Reich gegründet bei gleichzeitiger „Extirpation des deutschen Geistes.“ Es wurde ein Reich geschaffen, dass sich auf den ökonomisch-industriellen Komplex gründete ohne eine wirklichen Inhalt. Dies schuf den Anfang eines sich bildenden Vakuums. Die Folgen sind bekannt.
In Griechenland (und nicht in England) finden wir die Wurzeln Europas. Orpheus und Iphigenie wirkten auch auf der Krim. Der Raum zwischen der Krim und Athen ist die Wiege Europas. Die Konflikte in diesem Raum können uns ein Menetekel sein, aus dem wir hoffentlich die richtigen Schlüsse ziehen werden.
In einem Europa, dass mehr und mehr von rechten Kräften beherrscht wird, möchte ich jedenfalls nicht leben. Und ohne eine grundsätzliche kritische Selbstreflektion werden wir diese Entwicklung nicht stoppen.

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1 Kommentar

  1. Lieber Arfst Wagner,
    Es berührt, wie du die Probleme dieser Welt wirkungsvoll drapierst, und ja: Wo (wie) du da nicht leben möchtest, möchte ich das auch nicht.
    So habe auch ich – allerdings für dich, aber nicht nur – einen heissen „Aufruf zur Selbstreflektion“, es ist das hier, das sich mit den gewaltigen Ursachen der von dir geprangerten gewaltigen Probleme in der Welt offiziell auch so befasst (Quelle unten), ich denke mal, das kanntest du nicht (oder?):
    >Im 21. Jahrhundert bezeichnet amerikanischer Exzeptionalismus die politische Kernideologie der USA.[8][9] Er drückt sich, wie Stephen Kinzer schreibt, auch darin aus, dass die USA die einzigen in der Geschichte der Neuzeit sind, die überzeugt sind, dass sie Gottes Werk verrichten, indem sie ihr politisches und wirtschaftliches System anderen bringen.[10] Wegen ihrer Einzigartigkeit seien die USA an völkerrechtliche Vereinbarungen grundsätzlich nur insoweit gebunden, wie IHNEN dies nützt.[11] Auch ließen sich ihre Taten grundsätzlich nicht nach den moralischen Normen bewerten, nach denen die USA die Taten anderer Nationen bewerten.
    Denn es könne grundsätzliche keine „moralische Äquivalenz“ zwischen den USA und anderen Staaten in der Bewertung ihrer Taten geben, da sich Verbrechen von ‚wesenhaft Guten‘ nicht mit Maßstäben bewerten ließen, die man an Verbrechen von ‚wesenhaft Schlechten‘ anlegt.
    (man könnte fast meinen, hier hat sich ein Chavinal-Rassismus etabliert / Lu.)
    Folglich mögen die USA zwar gelegentlich ‚Fehler‘ machen, können jedoch aus grundsätzlichen Gründen keine Kriegsverbrechen begehen – weder in Vietnam, noch im Irak oder in Syrien. Und aus ebenso grundsätzlichen Gründen können sie auch keine Zivilisten ermorden, sondern Zivilisten sterben einfach als ‚kollaterale‘ Folge bester Intentionen.
    Da die USA wesenhaft gut seien, entzögen sich ihre Taten auch grundsätzlich einer Bewertung nach völkerrechtlichen Normen.[12]
    (Gegebenenfalls natürlich auch, wenn es um das globale Klima geht/Lu.)
    Sämtliche Subsysteme der amerikanischen Gesellschaft – etwa Verfassung, Politik, Wirtschaft, Rechtswesen, Sozialsystem, Religionswesen sowie das gesellschaftsübergreifende Wertesystem (Ideologie) – ließen sich demnach nur durch USA-spezifische Faktoren erklären, die sich aus der besonderen Geschichte des Landes ergäben.
    Die späte Besiedlung durch europäische Einwanderer, deren politische, wirtschaftliche und religiöse Selbstbefreiung vom Kolonialismus (Amerikanische Revolution), der (mit Frankreich geteilte) Status als Pioniernation der modernen, laizistischen Demokratie, die mit der Sklavenhaltung und ihrer späteren Abschaffung zusammenhängenden sozialhistorischen Entwicklungen sowie die Tatsache, dass auf dem Boden der USA seit dem Bürgerkrieg kein Krieg mehr stattgefunden hat, hätten sich der amerikanischen Gesellschaft so stark aufgeprägt, dass ein Vergleich mit den westeuropäischen Gesellschaften mithilfe übergreifender, also allgemeiner Kriterien und Theorien unfruchtbar bleiben müsse.
    (Daher Bush jun.: „Gott hat mir gesagt, wir müssen den Irak S.Husseins vernichten“, oder Obama auf Westpoint vor tausenden US-Soldaten im live-TV: „Die USA wird überall in der Welt ihre Interessen durchsetzen“, oder Trampel Trump: „Amerika (er meint aber nur die USA/Lu.) wieder gross machen …“)
    Rainer Mausfeld bezeichnet die exzeptionalistische Ideologie, die in der Geschichte – auch der europäischen – in vielfältigen Formen auftrete, als eine „moralische und intellektuelle Pathologie“, die mitverantwortlich sei für die größten Blutspuren in der Zivilisationsgeschichte. Gleichwohl fänden sich zahllose Intellektuelle, die bereit seien, diese Ideologie zu rechtfertigen.[15]
    Das ist so in der Wikipedia zu finden unter >Amerikanischer Exzeptionalismus<
    Ich stelle mir nun vor, dass es uns allen global besser gehen könnte, wenn wir den Zuständigen wie den naiven Menschen, die nach dieser seltsamen Religion handeln, gemeinsam und nachhaltig wie freundschaftlich und friedlich erklären könnten, dass es weltweit und besonders in den USA besser liefe, wenn die demokratischen Ideale der französischen Revolution, die Freiheit UND Gleichheit UND Brüderlichkeit zwischen allen Völkern geübt würde.
    Manche munkeln, dass dann der Unterschied zwischen gut und böse sowohl Herrn Putin, wie auch Herrn Kim oder unserer Fraui Merkel viel leichter fiele, gemeinsam festzustellen, damit zu drehen an dem grossen Rad unseres grünen Planeten, weil erst dan n die weltweiten Ressourcen zur Klimarettung frei werden können, die erforderlich sind.
    Was meinst du, Arfst, könnten wir darüber breiter diskutieren, entpropagandisiert und ALLE mitnehmend, weil da keiner "raus" darf, da es sonst nix wird?

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