ISAF-Abstimmung: Persönliche Erklärung der Abgeordneten Agnes Malczak, Maria Klein-Schmeink, Beate Müller-Gemmeke, Wolfgang Strengmann-Kuhn, Uwe Kekeritz, Sven-Christian Kindler und Katja Dörner

Persönliche Erklärung nach § 31 der Geschäftsordnung desDeutschen Bundestages zur namentlichen Abstimmung über denAntrag der Bundesregierung auf Fortsetzung der Beteiligungbewaffneter deutscher Streitkräfte an dem Einsatz derInternationalen Sicherheitsunterstützungstruppe in Afghanistan(International Security Assistance Force, ISAF) unter Führung der NATO auf Grundlage der Resolutionen 1386 (2001) und folgenderResolutionen, zuletzt Resolution 1890 (2009) des Sicherheitsratesder Vereinten Nationen (BT-DRS: 17/654)

Persönliche Erklärung der Abgeordneten Agnes Malczak, Maria Klein-Schmeink, Beate Müller-Gemmeke, Wolfgang Strengmann-Kuhn, UweKekeritz, Sven-Christian Kindler und Katja Dörner

Die Entscheidung über Auslandseinsätze der Bundeswehr gehört zu den schwierigstenEntscheidungen, die Abgeordnete des Deutschen Bundestages zu treffenhaben und fordert wie kaum eine andere das Gewissen und Herz derParlamentarierinnen und Parlamentarier. Dem Engagement der in Afghanistaneingesetzten zivilen Helferinnen und Helfer, Soldatinnen und Soldaten sowie ihrenFamilienangehörigen gilt unsere große Wertschätzung und zutiefst empfundenerDank.

Da die Sicherheitslage in Afghanistan acht Jahre nach Beginn der OEF und desISAF-Einsatzes sehr kritisch ist und sich in jüngster Zeit dramatisch zugespitzt hat,vollzog die US-Administration einen grundlegenden Strategiewechsel und gewannhierfür die Unterstützung der afghanischen Regierung und der internationalenGemeinschaft. In diesem Zusammenhang passte auch die Bundesregierung ihrenAnsatz an und legt dem Bundestag ein neues Mandat für den Einsatz derBundeswehr in Afghanistan vor, das sich deutlich vom letzten unterscheidet.

Für eine gewissenhafte Abstimmung ist daher eine differenzierte Bewertung dieserUnterschiede unabdinglich. Einerseits greift das neue Mandat mit der Verständigungauf eine Abzugsperspektive, der Akzentuierung auf Ausbildung von Sicherheitskräften,der signifikanten Aufstockung der Mittel für den zivilen Aufbau und der Unterstützungeiner Lösung durch Verhandlungen mit den Taliban zentrale grüne Forderungenauf und erweckt somit den Eindruck eines Kurswechsels in die richtige Richtung.Andererseits gibt die beabsichtigte Umsetzung dieser Ziele, insbesondere die geplanteAusgestaltung der Ausbildung von Sicherheitskräften im Rahmen des partnering-Konzeptes, Grund zur Sorge. Am problematischsten ist jedoch die Einbettungdieser Komponenten in eine Gesamtstrategie, die in einem ersten Schritt auf militärischeOffensive und Truppenaufstockung setzt und somit die große Gefahr einer zunehmendenEskalation mit zahlreichen Opfern und Toten heraufbeschwört, sowohlunter den Soldateninnen und Soldaten, als auch unter der Zivilbevölkerung.

Die klare Formulierung einer Abzugsperspektive stellt eine grundlegendeVerbesserung zum früheren Mandat dar. Der Abzug der Bundeswehr soll 2011eingeleitet werden und in fünf Jahren mit der Übergabe der Verantwortung für dieinnere und äußere Sicherheit des Landes an die afghanische Regierungabgeschlossen sein. Allerdings ist unklar, nach welchen überprüfbaren Kriterien sichdie einzelnen Etappen des Abzugs richten sollen und welche Handlungsoptionen fürden Fall vorgesehen sind, dass diese Ziele nicht erreicht werden. Es sollte außerdemgewährleistet sein, dass auch für die Zeit nach der Übergabe und dem Abzug derBundeswehr die zivile Hilfe fortgesetzt wird.

Das neue Ausbildungskonzept des partnering orientiert sich am amerikanischenVorbild und sieht den gemeinsamen Einsatz von deutschen Ausbildern (überwiegendFeldjäger) und afghanischen Sicherheitskräften in der Fläche vor. Das konkrete Konzeptdes deutschen partnerings konnte von der Bundesregierung trotz mehrfacherErkundigungen nicht ausreichend dargestellt werden. Da es hierbei auch um dieRückgewinnung der Kontrolle in von Taliban beherrschten Gebieten im Norden geht,besteht die Gefahr, dass Kampfeinsätze unvermeidbar werden. Es ist daher damit zurechnen, dass der Wechsel zum Ausbildungskonzept des partnering mit einer Zunahmeoffensiver Kampfeinsätzen im Rahmen gemeinsamer Operationen mit denafghanischen Sicherheitskräften einhergeht. Vor diesem Hintergrund kann die verstärkteGewichtung der Ausbildung innerhalb des Mandates nicht als defensivesElement gewertet werden, sondern unterstreicht im Gegenteil dessen offensivenCharakter.

Bei der Unterstützung des Aufbaus eines funktionierenden afghanischen Sicherheitsapparateskommt der Polizeiaufbau viel zu kurz. Die Polizeiausbildung müssteviel deutlicher verstärkt und die Zahl der europäischen Ausbilder den Aufwuchszielender ANP entsprechend auf 2000 erhöht werden. Hierzu wären fünfhundert deutschePolizisten notwendig. Die angekündigte Erhöhung der Polizeikräfte für das bilateralePolizeiprojekt auf 200 sowie die geplante Aufstockung des Beitrages zur EuropäischenPolizeimission EUPOL auf 60 Polizistinnen und Polizisten reichen nicht aus.Es bestehen außerdem Unklarheiten darüber, welche Konsequenzen eine rechtlicheBewertung des Afghanistaneinsatzes als „nicht-internationaler bewaffneter Konflikt“auf den Einsatz von deutschen Polizeikräften in Afghanistan hat.

Innerhalb der neuen Afghanistanstrategie der Bundesregierung rückt der zivile Aufbauverstärkt in den Vordergrund. So sollen die Ausgaben für die Entwicklungszusammenarbeitbis 2013 auf jährlich rund 430 Mio. Euro (Zuwachs von ca. 210 Mio.€) gesteigert werden. Das ist im Vergleich zu den vergangenen Jahren deutlichmehr, im Verhältnis zu den ebenso steigenden Ausgaben für die militärischeKomponente (Zuwachs von ca.275 Mio. €) jedoch immer noch geringer. DieKonzentration auf militärische Kapazitäten zeigt sich auch an der chronischenVernachlässigung der im politischen Auftrag stehende UN-Mission UNAMA inAfghanistan, die im Vergleich zur NATO-Mission völlig unterfinanziert ist.

Der zunehmende Rückzug von Hilfsorganisationen aus Afghanistan und die Schwierigkeitenbeim Mittelabfluss machen außerdem deutlich, dass eine Fokussierung aufdie Erhöhung der Mittel zu kurz gedacht ist. Es muss vor allem die Wirksamkeit derMittel sichergestellt werden. Hierzu bedarf es einer verbesserten Koordination deszivilen Aufbaus, der Bekämpfung der massive Korruption als eines der Haupthindernissefür den wirksamen Einsatz der Mittel, einer verstärkten Einbeziehung der afghanischenBevölkerung sowie einer sinnvollen Schwerpunksetzung. Die Bundesregierunghat keine plausiblen Vorschläge, wie diese Effektivitätslücken geschlossenwerden können. Ihr fehlt auch ein Konzept für die Wirtschaftsentwicklung Afghanistans.Ein solches ist aber als Rahmen für einen erfolgreichen zivilen Aufbau dringendnotwendig und müsste den von der Bundesregierung vernachlässigten, jedoch fürdie afghanische Wirtschaft zentralen landwirtschaftlichen Sektor besonders berücksichtigen.

Der Erfolg der Entwicklungszusammenarbeit in Afghanistan ebenso wie der Aufbaudes Sicherheitssektors setzt funktionierende Governance-Strukturen voraus. Es gibtjedoch keine Auskunft über den zur Verbesserung bzw. Schaffung solcher Strukturenbenötigten deutschen Beitrag. Statt diese Mängel zu beheben, verzichtet das Mandatsogar völlig auf eine nähere Beschreibung des zivilen Engagements Deutschlands inAfghanistan. Es spiegelt daher keine umfassende Strategie wider und bleibt militärfixiert- die grüne Forderung zur Vorlage eines Gesamtmandates, das die zivile undmilitärische Komponente umfasst, wird nicht umgesetzt.

Die Unterstützung der afghanischen Regierung um eine politische Verhandlungslösungunter Einbeziehung der Taliban ist zweifelslos richtig und notwendig. DasModell des Reintegrationsfonds, der von der Bundesregierung mit 50 Millionen Euromitfinanziert wird muss jedoch kritisch betrachtet werden. Für die Durchführung desTaliban-Aussteigerprogramms ist allein die afghanische Regierung verantwortlich.Dabei ist unklar, wie sicher gestellt werden soll, dass die zur Verfügung gestelltenMittel zweckmäßig eingesetzt werden und der Missbrauch für machtpolitische Partikularinteressensowie durch Korruption ausgeschlossen ist. Außerdem stellt sich dieFrage, wie bei der Umsetzung zwischen moderaten und radikalen Taliban unterschiedenund die Erfüllung der Bedingungen für die Teilnahme am Taliban-Aussteigerprogramm(Verzicht auf Gewalt und Terror, Abbruch aller Kontakte zu al Qaida,Anerkennung der afghanischen Verfassung) wirksam überprüft werden soll. Die Belohnungvon Talibanführern, die für Menschenrechtsverletzungen und die Tötungzahlreicher unbeteiligter Zivilsten verantwortlich sind, erzeugt außerdem ein gravierendesGerechtigkeitsproblem, das sich negativ auf die Unterstützung derer, die bishermit den internationalen Kräften kooperiert haben, auswirken kann und somit einenachhaltige Versöhnung gefährdet. Schließlich steht der Versöhnungscharakter undsomit der Erfolg des Taliban-Aussteigerprogramms aufgrund der parallelen Ausweitungder Offensive insgesamt in Frage.

Die im Rahmen der neuen amerikanischen Afghanistanpolitik von der Bundesregierungmit getragenen militärische Eskalationsstrategie und die damitzusammenhängende Truppenaufstockung zur Bekämpfung der Taliban sind derHauptgrund dafür, dass wir dieses Mandat ablehnen. Wir halten den unsachlichenUmgang der Bundesregierung mit der Frage der Truppenerhöhung für völligverantwortungslos. Der Kompromiss zwischen Außenminister Westerwelle undVerteidigungsminister zu Guttenberg erfolgte nicht auf Grundlage einer sachlichenPrüfung, sondern einer Logik des Kuhhandels und der Vermeidung vonGesichtsverlust. Dieses narzisstische Vorgehen wird dem Ernst des Einsatzes inAfghanistan nicht gerecht. Heraus kam eine Kontingentaufstockung der Bundeswehrum 850 auf insgesamt 5350 Soldatinnen und Soldaten, von denen 350 alssogenannte flexible Reserve verwendet werden sollen. Dies wird von derBundesregierung insbesondere mit der Erhöhung der Zahl der ausbildendenSoldaten von 280 auf 1400 begründet. Sowohl der Einsatz der Reserve als auch dastatsächliche Kontingent der ausbildenden Soldaten bleiben zweifelhaft vor demHintergrund, dass die letzte Erhöhung der Mandatsobergrenze von 3500 auf 4500Soldaten im Jahr 2008 ebenfalls mit der Ausbildungsunterstützung für dieafghanische Armee begründet wurde, jedoch bis heute nur ein Bruchteil davon in derAusbildung eingesetzt wird. Die Bundesregierung bleibt eine Antwort darauf schuldig,warum eine verstärkte Ausbildung der afghanischen Armee nicht auch durch eingrößeres Umschichten innerhalb des bestehenden Mandates erreicht werden kann.Auch der Verzicht auf die ineffizienten und teuren RECCE-Tornados wurde hierzunicht in Erwägung gezogen.

Die am 15. Feburar 2010 gestartete „Muschtarak“- Offensive in Helmand fordert fasttäglich zivile Opfer. Es ist davon auszugehen, dass auch der Einsatz der Bundeswehraufgrund der Eskalationsdynamik und im Rahmen von Kampfeinsätzen zurRückeroberung der von Taliban beherrschten Gebiete die Zivilbevölkerung trifft. Bereitsdie tödlichen Luftangriffe auf die beiden Tanklastzüge am 4. September 2009haben gezeigt, dass in der Umsetzung des Mandates das Primat des Schutzes derZivilbevölkerung nicht gewährleistet ist. Dies wird mit der Stationierung von rund5000 US-Soldatinnen und Soldaten im Regionalbereich Nord, von denen viele inbestimmten Gebieten zum Zweck der Aufstandsbekämpfung eingesetzt werden,noch viel weniger der Fall sein. Dass die amerikanischen Streitkräfte im Norden beidiesem Verhältnis dem deutschen Regionalkommandeur General Leidenberger unterstehen,ist trotz offizieller Verlautbarungen mehr als fraglich.

Auch die mangelnde und fehlerhafte Informationspolitik der Bundesregierung im Zusammenhangmit den Vorfällen am Kundus-Fluss begründen erhebliche Zweifel amkünftigen Charakter des Bundeswehreinsatzes in Afghanistan. Dabei wirft insbesonderedie Rolle der Task Force 47 und der darin integrierten KSK-Kräfte entscheidendeFragen auf, deren Beantwortung noch aussteht.

Das neue Mandat unterstützt durch die Truppenerhöhung die Einsatzstrategie dervon den Amerikanern betriebenen militärisch offensiven Aufstandsbekämpfung undentfernt sich somit vom ursprünglichen ISAF-Rahmen des Stabilisierungseinsatzes.Diese falsche Ausrichtung des militärischen Engagements überwiegt die genanntenVerbesserungen im zivilen Bereich gegenüber dem letzten Mandat.

Unsere Nein-Stimme richtet sich gegen eine Strategie, die als defensiv verkauft wird,jedoch eindeutig offensiv ist und bei der viele Fragen bleiben. Unsere Ablehnung desMandates ist nicht gleichzusetzen mit der Forderung nach einem Sofortabzug, denwir ausdrücklich zurückweisen, würde er doch die Situation in Afghanistan noch weiterdestabilisieren.

Unser Votum richtet sich auch nicht gegen die in Afghanistan eingesetzten Soldatinnenund Soldaten, sondern gegen die falsche Afghanistanpolitik der Bundesregierung.Als Mitglieder des Bundestages fühlen wir uns unseren Soldatinnen und Soldatenund ihren Familien gegenüber dazu verpflichtet, einen Einsatz, der auf Eskalationsetzt und somit die afghanische Zivilbevölkerung ebenso wie die deutschen Einsatzkräfteauf unverantwortliche Weise einer größeren Gefahr aussetzt, strikt abzulehnen.

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