Gastbeitrag oluf onice, 4.2.2023
Im September 1961 wurde auf Initiative des jugoslawischen Ministerpräsidenten Tito die Bewegung der Blockfreien Staaten gegründet. Gründungsmitglieder waren 25 Nationen, darunter Indien, vertreten durch den ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser, Indiens Ministerpräsidenten Jawaharlal Nehru und dem Präsidenten Indonesiens, Sukarno. Diese bis heute bestehende Bewegung findet kaum Erwähnung in der US- und Eurozentristisch geführten Debatte. Dieser Ignoranz ist es völlig egal, welches der globalen Themen diskutiert wird. Die Länder des Südens sind von nahezu allen existenziellen Problemen am härtesten betroffen, die Hauptverursacher aber finden wir im globalen Norden.
Die Gründung der Organisation war eine Reaktion auf die permanente Kriegsdrohung und die Drohung mit der atomaren Vernichtung[1] der Menschheit durch, sich antagonistisch gegenüberstehende Blöcke, der NATO und der Warschauer Pakt.
Zahlreiche Staaten, die sich in blutigen Kämpfen vom Terror des europäischen Kolonialismus befreit hatten, mochten sich keinem der Blöcke anschließen.[2]
Die Mitglieder der Bewegung der Blockfreien Staaten und der G77 (wirtschaftlich orientierte Organisation blockfreier Staaten), sind mit über 130 Mitgliedern in der UN die wohl mitgliederstärkste Gruppe. Auch wenn es eine große Herausforderung ist, in einer von so vielen Staaten getragenen Organisation gemeinsame Standpunkte zu erarbeiten, gelingt dies in essentiellen Fragen durchaus, und das verdient unsere Beachtung.
Zwar erhielt die UN-Resolution der Dringlichkeitssitzung der UN vom März 2022 „Aggression gegen die Ukraine“ die überwältigende Zustimmung der 193 Mitgliedsstaaten, jedoch scheint diese von einigen Staaten als „Freibrief“ für beliebige Sanktionen oder gar militärische Intervention gegen die russische Invasion der Ukraine missverstanden zu werden.
Auf Einladung der aktuellen kubanischen Präsidentschaft der Organisation, nahm als wohl einziger Europäer, Yanis Varoufakis für die europäisch organisierte Bewegung DIEM25 und den in Griechenland parlamentarisch bereits vertretenen Wahlflügel MERA25, am „Kongress für eine Neue Internationale Wirtschaftsordnung“ am 27.1.23, auf Kuba teil. In seiner Rede rief er dazu auf, die Idee der „Blockfreien“ wieder aufzugreifen, zu erneuern, wieder aufzubauen. „Warum wir eine neue Bewegung aufbauen müssen, um für eine sozialistische, demokratische und befreiende Neue Internationale Wirtschaftsordnung zu kämpfen? Weil wir müssen!“ (Link zur ganzen Rede).
In seiner Rede zitierte er anlässlich des Krieges in der Ukraine aus der gemeinsamen Athener Erklärung der Partei MERA25 und der Progressiven Internationale (Jeremy Corby, Ece Temelkuran, Yanis Varoufakis u.a.):
„Sie war auch der erste Aufruf zu einer neuen Bewegung der Blockfreien Staaten. Erlauben Sie mir, einige Auszüge zu verlesen:
Wir stehen an der Seite aller Völker, die unter Invasion, Vertreibung und Aggression leiden.
Wir fordern einen sofortigen Waffenstillstand in jedem Konflikt, den Rückzug der Besatzungstruppen und einen umfassenden Frieden unter der Schirmherrschaft der Vereinten Nationen.
Wir sind gegen die Aufteilung der Welt in konkurrierende Blöcke, die in zügellosen Militarismus, hypermoderne Massenvernichtungswaffen und einen neuen Kalten Krieg investieren.
Wir glauben, dass dauerhafter Frieden nur erreicht werden kann, wenn alle Militärblöcke durch einen umfassenden internationalen Sicherheitsrahmen ersetzt werden, der Spannungen abbaut, Freiheiten erweitert, Armut bekämpft, Ausbeutung begrenzt, soziale und ökologische Gerechtigkeit anstrebt und die Vorherrschaft eines Landes über ein anderes beendet.
In diesem Sinne rufen wir Demokratinnen und Demokraten in der ganzen Welt auf, sich in einer neuen Bewegung der Blockfreien zusammenzuschließen … als Weg zu dauerhaftem Frieden und … global geteiltem Wohlstand.
Und da haben Sie es: Fünfzig Jahre nach der Kampagne der ursprünglichen Bewegung der Blockfreien für die Schaffung einer Neuen Internationalen Wirtschaftsordnung sind wir wieder dabei. Zuerst in Athen, heute in Havanna.“
Einigen Stimmen der Anderen verschafft der Publizist und Forscher Davide Brocchi[3] Gehör. Er schreibt in einem Brief:
„In diesem Krieg gibt es zwei Probleme – und Putin ist eindeutig eins davon.
Interessant finde ich die Perspektive anderer Länder… Zum Beispiel der sogenannten BRICS-Länder: Neben Russland (R), Brasilien, Indien, China und Südafrika. Auf welcher Seite stehen sie? Warum betrachten sie den Krieg anders als wir? Alle nur „Putin-Freunde“ oder „Opfer seiner Propaganda“? Liegen wir falsch oder sie?
Zwei Beispiele:
Wie steht Brasilien zum Ukraine-Konflikt?
>>In einem Interview mit dem US-amerikanischen Wochenmagazin „Time“ äußerte sich Luiz Inácio Lula da Silva zum russischen Angriffskrieg auf die Ukraine. Er betonte, Russland hätte zwar nicht in die Ukraine einmarschieren dürfen, aber es sei „nicht nur Putin, der schuldig ist“. Die USA und Europa würden ebenfalls schuld tragen, da sie der russischen Regierung hätten zusichern müssen, dass die Ukraine der NATO nicht beitreten werde. Selenskyj, der Regierungschef der Ukraine sei „für den Krieg genauso verantwortlich wie Putin, denn am Krieg ist nicht nur eine Person schuldig“. Selenskyj habe „den Krieg gewollt“, sonst hätte er „mehr verhandelt“ und beispielsweise vorgeschlagen, „über die Nato- und EU-Mitgliedschaft weiter zu diskutieren“. Dies habe er nicht getan. Diese Äußerungen stießen auf scharfe Kritik beim ukrainischen Präsidentenberater Mykhailo Podolyak: „Lula da Silva spricht über die Schuld der Ukraine oder des Westens am Krieg. Das sind die Versuche Russlands, die Wahrheit zu verdrehen. Es ist ganz einfach: Russland hat die Ukraine heimtückisch angegriffen, der Krieg findet nur auf dem Gebiet der Ukraine statt, Russland tötet massiv Zivilisten. Klassischer Krieg der Zerstörung und Besetzung“, schrieb Podolyak in seinem Twitter-Account.<<
Wie steht Südafrika zum Ukraine-Konflikt?
Hier ein Kommentar vom 26. Januar im Spiegel…
„Warum Afrika genug von europäischer Arroganz hat“.
„Das Auswärtige Amt wollte witzig sein, doch das ging gründlich in die Hose. Nun zeigt ein Leoparden-Emoji, was in den Beziehungen mit dem afrikanischen Kontinent alles schiefläuft – auch im Kontext des Ukrainekriegs.“
Eine postkoloniale Lektüre des Konflikts…
Die neoliberale Globalisierung hat sich in einer Zeit durchgesetzt, in der offene Märkte vor allem dem Westen (G7) zugutekamen. Vor allem die USA machten sich dafür stark, aus der Uruguay-Runde, die Ronald Reagan einberufen hatte, wurde die Welthandelsorganisation (WTO).
Liberalisierung bedeutet eben das Gesetz des ökonomisch Stärksten. So hat sich für Deutschland lange gelohnt, ein Drittel der Autos in China produzieren zu lassen. Diese Globalisierung wird aber zum Problem, wenn sich China in Deutschland breit machen will.
Heute sind die BRICS-Länder keine schwachen „Entwicklungsländer“ mehr. Sie sind zu einer ernstzunehmenden Konkurrenz geworden. So stellt der Westen selbst nun die Globalisierung in Frage und beruft sich dabei auf die Menschenrechte. Gleichzeitig steigen die internationalen Spannungen seit Jahren wieder, so wie die weltweiten Rüstungsausgaben. Die USA sind das beste Beispiel für die soziale Sprengkraft neoliberaler Politik: Sie stehen regelmäßig kurz vor der Zahlungsunfähigkeit und gleichzeitig vor dem Bürgerkrieg. Trotzdem leisten sie sich weiterhin die höchsten Militärausgaben weltweit: 800 Mrd. Dollar/Jahr. Solange der Dollar die Leitwährung bleibt, können sich die USA immer weiter verschulden. Schon in den 1930ern und in den 1940ern war die Kriegswirtschaft eine bewährte Strategie, um die schlimmen Folgen der Finanzkrise 1929 hinter sich zu lassen (Kriegs-Keynesianismus, dazu diese Doku: https://www.youtube.com/watch?v=5cATgGEF7v4).
Nach der neoliberalen Globalisierung steigen die internationalen Spannungen… Mit Russland ist der Krieg bereits ausgebrochen, mit China könnte er bevorstehen. Während der Westen den russischen und chinesischen Imperialismus bekämpfen will, will Russland ein Exempel statuieren und dem „westlichen Imperialismus“ einen Riegel vorschieben: keine weitere Expansion der NATO nach Osten, also der US-dominierten Einflusszone. Die Türkei selbst verhindert den NATO-Beitritt von Schweden und Finnland. Auch weitere Länder haben den Westen bisher als expansionistisch und arrogant erfahren, deshalb findet Putin hier und da immer noch Verständnis.
Heute wie im 20. Jahrhundert fehlt, eine internationale institutionelle Infrastruktur, die Konflikte friedlich regelt. Im Ukraine-Konflikt fehlt eine dritte starke, multilaterale Kraft, die vermittelt. Sind die NATO und die USA die legitimierten Weltpolizisten? Was die NATO 1999 und die USA 2003 getan haben, tut heute Russland: das Völkerrecht brechen. Es waren die USA, die ab 2018 einige internationale Friedensverträge gekündigt haben. Keine Weltmacht hatte bisher Interesse, die UNO zu reformieren und zu stärken. Sowohl Russland als auch die USA erkennen bis heute den Internationalen Strafgerichtshof nicht an. In der Ukraine hat sich der Krieg 2021 enorm verschärft, aber begonnen hat er schon lange – auch mit westlicher Beteiligung (s. Merkels Interview: „Die Ukraine nach 2014 aufrüsten“).
Nach der neoliberalen Globalisierung wiederholt sich eine Geschichte, die Karl Polanyi bereits 1944 in „The Great Transformation“ beschrieben hatte. Diese Geschichte hatte der Sozialanthropologe selbst erlebt: zwei Weltkriege, dazwischen die Finanzkrise… Das Böse von Hitler und Putin mögen einiges erklären. Vielleicht sind sie aber auch eine bequeme Erklärung, um manche unangenehmen Wahrheiten zu verdecken. 1945 ist Hitler gestorben. Trotzdem wurden die Märkte später wieder entfesselt, wieder kam es zur Weltfinanzkrise, wieder zur Krise der Demokratie und autoritären Entwicklungen – und nun zum Krieg. Putin darf von mir aus gerne sterben, aber das löst nur eines der zwei Probleme.“ (Brief zur Debatte im Grünen Netzwerk – https://gruene-linke.de).
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[1] Am Rande erwähnt: Die USA haben bis heute über 20-mal mit nuklearer Vernichtung gedroht (allein zwischen 1946 und 1970 bereits 18-mal). Selbstverständlich war Europa seinerzeit eine der Regionen, die der „militärischen Eindämmung des Kommunismus geopfert“ werden sollte. Siehe dazu, Jochen Hippler, Amerika muss die Führung übernehmen, 1983, ISBN 3-88974-004
[2] „Viele der blockfreien Länder sind erst wenige Jahre zuvor aus der kolonialen Abhängigkeit entlassen worden. 1961 war dann das sogenannte „afrikanische Jahr“ gefolgt, in dem 18 Staaten Afrikas ihre Eigenständigkeit erlangten.“ (https://www.deutschlandfunknova.de/beitrag/kalter-krieg-die-gruendung-der-bewegung-der-blockfreien, Rundfunkbeitrag v. 27.8.2021) Das ist die Sprachregelung wie sie die europäischen Kolonisatoren pflegen. Selbstverständlich ist hier niemand „entlassen“ worden. Diese überheblich-beschönigende Interpretation wird bis in die heutige Zeit aufrechterhalten.
[3] Davide Brocchi, geb. 1969, Publizist, studierte u.a. bei Prof. Umberto Eco Sozialwissenschaften, Politik, und Psychologie in Bologna.