Ist Militarismus der neue Realismus?

72 Prozent der Grünen Anhänger wollen schwere Waffen an die Ukraine liefern. Für Robert Habeck ist „Pazifismus derzeit ein ferner Traum“. Wie kann eine Partei mit pazifistischer Tradition davon ausgehen, dass ein Krieg mit schweren Waffen beendet werden kann? Diese Frage stellte Markus Lanz am 8. April seinem Studiogast Anton Hofreiter. Er antwortete wie folgt:

„Wir kommen nicht nur aus der pazifistischen Tradition, sondern ganz stark auch aus der Menschenrechtstradition; ganz stark auch aus der Tradition Selbstbestimmungsrecht. Natürlich ist es extrem bitter, aber es ist ja nicht, dass Gesinnungen sich einfach ändern, sondern die Realität hat sich auf eine ganz brutale Art geändert. Und wir sehen einen Vernichtungskrieg mitten in Europa […]. Meine Werte haben sich nicht geändert, aber die Realität hat sich so geändert […]. Deshalb reagieren wir darauf. Deshalb müssen wir der Ukraine Waffen liefern – in meinen Augen auch schwere Waffen“.

Vor den „grünen Falken“ muss nun sogar ein Brigadengeneral a. D. der Bundeswehr warnen: „Schwere Waffen, das ist der ‚Weg in den Dritten Weltkrieg‘“. Erich Vad ist nicht irgendwer: Von 2006 bis 2013 war er Sekretär des Bundessicherheitsrates und militärpolitischer Berater von Angela Merkel. Bei der Sendung Maybrit Illner vom 21. April äußerte sich Vad wie folgt:

„Wir sollten der Ukraine helfen, wir unterstützen sie auch massiv. Aber vom Ende her denken, heißt für mich nicht, dass man den militärischen Sieg einer Seite in diesem Konflikt verfolgen sollte, sondern ein baldiges Ende dieses Konfliktes mit einer politischen Lösung. Mich stört es, wenn deutsche Politiker von den Grünen eine militärische Lösung als ultimatives Ziel darstellen: Das ist doch verrückt! […] Das ist eine Rhetorik, die nicht geht in der modernen Friedens- und Konfliktforschung, das ist ein echtes Novum […]. Der Zustand muss am Ende so sein, dass wir wieder zu einem Waffenstillstand kommen […]. Wir können mitten in Europa keinen Stellvertreterkrieg gebrauchen, der das Potenzial hat, zu einem Nuklearkrieg zu eskalieren. Russland ist nicht Serbien, nicht Irak, nicht Afghanistan und nicht Libyen. Russland ist eine Nuklearmacht mit den meisten Nuklearwaffen weltweit: Das ist ein Unterschied. Und wir müssen vorsichtig sein mit Waffenlieferungen und mit unserer Kriegsrhetorik.“

Schon Harald Welzer hatte im März vor einer neuen „Ästhetik und Rhetorik des Krieges“ in der Bundesrepublik gewarnt. Der Sozialpsychologe war erstaunt „wie schnell längst überholt geglaubte Ansichten sich nun im Zuge des Ukraine-Kriegs wieder breitmachen“. Und dies ausgerechnet bei den Grünen? Annalena Baerbock will keinen Waffenstillstand „um jeden Preis. Ein Diktatfrieden werden wir nicht akzeptieren. Die Ukrainer und Ukraininnen entscheiden über ihre Zukunft!“

Pazifismus vs. Menschenrechte?

Diese Entwicklungen verdienen einige kritische Anmerkungen. Zunächst ist die Stellungnahme von Anton Hofreiter bei der Talksendung von Markus Lanz bemerkenswert, denn im neuen Weltbild der Grünen werden Pazifismus und Menschenrechte nicht nur getrennt: Sie stehen sogar in Konflikt. Wenn Menschenrechte gefährdet werden, ist der Krieg für Hofreiter ein legitimes Mittel. So ähnlich argumentierte auch Außerminister Joschka Fischer 1999, als er den ersten deutschen Kriegseinsatz seit dem Zweiten Weltkrieg beim Außerordentlichen Parteitag in Bielefeld legitimierte:

„Auschwitz ist unvergleichbar. Aber ich stehe auf zwei Grundsätzen, nie wieder Krieg, nie wieder Auschwitz, nie wieder Völkermord, nie wieder Faschismus. Beides gehört bei mir zusammen.“

Fischers Argument folgte damals dieser Logik: Ein Militäreinsatz in Kosovo verstößt zwar gegen das Völkerrecht, aber weil Slobodan Milošević ein neues Auschwitz plane, ist der Krieg gerecht und ohne Alternativen. Mit einem Wortspiel überzeugte Fischer damals die Mehrheit der grünen Delegierten, denn mit dem Grundsatz „nie wieder Krieg“ zog man selbst in den Krieg.
Was wurde in Bielefeld verschwiegen? Zum Beispiel, dass im Kampf für die Menschenrechte auch Zivilopfer in Kauf genommen werden müssen und Uranmunition zum Einsatz kommt. Verschwiegen wurde auch, dass Diktatoren bisher ganz unterschiedlich behandelt worden sind, dadurch auch die Menschenrechte. Habeck selbst hofierte vor wenigen Wochen die Machthaber Katars. Als die USA 2003 in den Irak einmarschierten und einen Krieg begannen, der hunderttausend Menschenleben kostete, wurden keine Sanktionen gegen die USA erörtert und auch keine gesetzt. Guantanamo? Folter? Blackwater-Söldner? Noch heute gehören die USA zu den Ländern, die den Internationalen Gerichtshof in den Haag nicht anerkennen. Gegen den Gerichtshof hat die US-Regierung sogar Sanktionen erhoben, denn das Land fürchtet selbst eine juristische Verfolgung. Wer Kriegsverbrechen der USA aufdeckt, muss heute befürchten, wie Julian Assange zu enden.
Das Verhalten der USA ist sicher keine Entschuldigung für den Angriffskrieg Russlands in der Ukraine. Hier geht es aber um Weltmächte, die sich in ihrem völkerrechtswidrigen Verhalten gegenseitig legitimieren. Diesem Zustand begegnen die Grünen mit einer Doppelmoral, denn seit Monaten klingt ihre Sprache jener der US-Regierung auffallend ähnlich. Dass Deutschland in einen gefährlichen Stellvertreterkrieg eingezogen wird, wird billigend in Kauf genommen.

Gesinnung vs. Realität?

Im neuen Weltbild der Grünen werden auch Gesinnung und Realität voneinander getrennt– und die Realität hat natürlich Vorrang. Für Hofreiter ist Pazifismus Gesinnung, für Habeck ein „ferner Traum“, im Umgang mit der Realität also nicht wirklich brauchbar. Ist auch ein Denken Gesinnung, das sich nur auf Waffen und Waffenlieferungen beschränkt? Natürlich nicht: Militarismus ist, sozusagen, der neue Realismus. Ende Februar klang Habeck so, als sei selbst der Atomausstieg nur ein Traum gewesen, denn die Realität verlangt nun eine „ideologiefreie Prüfung“ der Laufzeitverlängerung der letzten Kernkraftwerke.
Was die Realität ist, das ist eine Frage der Perspektive. Was die passende Reaktion auf eine Realität ist, das ist eine politische Frage. Wenn Hofreiter und Habeck ihre eigene Perspektive universalisieren, dann handeln sie selbst ideologisch. Ein Beispiel? Vieles spricht dafür, dass Russland ein autoritäres Regime ist. Ist aber die Ukraine eine Demokratie? Noch im Jahr 2021 wurde das Land im Democracy Index von The Economy zu den Hybridregimen gezählt. In dieser Kategorie sitzt die Ukraine neben Ländern wie der Türkei von Recep Erdogan. Auf der Liste der großen Profiteure von Steueroasen stehen in den Pandora Papers nicht nur Wladimir Putin, der tschechische Ministerpräsident Andrej Babiš und Tony Blair, sondern auch Wolodimir Selenskij. In der Ukraine haben der Nationalismus und der Rechtsextremismus einen starken Einfluss. 2019 verabschiedete das ukrainische Parlament ein neues Sprachgesetz, das die russische Sprache verdrängt. Der ukrainische Botschafter in Deutschland sympathisiert für die rechtsextreme Asow-Bewegung und schrieb am 6. April auf Twitter: „All Russians are now our enemies“. Ein Tag später ließ Selenskij während seiner Rede vor dem griechischen Parlament einen Kämpfer des rechtsextremen Regiments Asow zu Wort kommen. Dieser Skandal brachte Griechenland dazu, jede Waffenlieferung an die Ukraine zu beenden.

Für ein unabhängiges Europa zwischen Moskau und Washington

In einem „Stellvertreterkrieg“ (so bezeichnet Erich Vad den Ukraine-Krieg) gerät die Zivilbevölkerung zwischen die Blöcke. Auch das Handeln von USA und Großbritannien in der Region sollte kritisch beleuchtet werden. Auf jeden Fall hat der Frieden aktuell mehrere Feinde – und Putin ist vermutlich nur einer davon. So befürchtet der SPD-Altpolitiker Klaus von Dohnanyi, dass die USA kein Interesse an einem schnellen Frieden haben. Auch der ehemalige EU-Kommissar Günter Verheugen erinnert daran, dass „die Strategische Partnerschaft das war, was Russland wollte, und diese Partnerschaft hat eine Zeitlang auch sehr gut funktioniert, bis ganz andere Fragen […] in eine neue Ost-West-Konfrontation führten. […] Der Grund war, dass die EU mehr und mehr der US-amerikanischen Linie folgte. Und Washington meinte, es komme darauf an, langfristig Russland so zu schwächen, dass es nicht wieder zum Rivalen werden kann“.
Für den Frieden in der Ukraine brauchen wir ein starkes, unabhängiges Europa zwischen Moskau und Washington. Genauso wird eine neue Weltordnung benötigt, dieses Mal jedoch eine multilaterale und keine unilaterale.
 
Davide Brocchi, Köln

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2 Kommentare

    • Carmen Lange auf 25. April 2022 bei 16:39
    • Antworten

    Ich denk, ich bin im falschen Film! Ein Stellvertreterkrieg? Wo kämpfen denn die Amerikaner in der Ukraine? Alle Menschen, die dort für Ihre Unabhängigkeit kämpfen, oder die sich vor dem russischen Überfall für eine demokratische Entwicklung in der Ukraine einsetzten, alles amerikanische Agenten? Ich glaube, Ihr habt zu viel Russia Today gekuckt! Russland hat ein unabhängiges Nachbarland überfallen, dessen Grenzen sie im Austausch mit ukrainischen Atomwaffen völkerrechtlich verbindlich anerkannt haben. Das ist erst mal der Fakt, den man zur Kenntnis nehmen sollte. Ganz unabhängig davon, was ich ansonsten an amerikanischer Politik kritisiere.
    Carmen Lange

    • Daniel Lang auf 24. April 2022 bei 10:24
    • Antworten

    Zitat:
    Weite Teile der Linken wollten sich nicht vorstellen, dass ausgerechnet Migranten und deren Kinder Menschenhasser sein können. Sie galten durchgehend und per se als bessere Menschen. Und die, die so realitätsfern denken, machen heute Politik – und oft auch die Nachrichten.
    Innenministerin Nancy Faeser schrieb auf Twitter: „Für Judenfeindlichkeit gibt es in unserer Gesellschaft keinen Platz.“ Das ist schlicht falsch. Der Platz dafür ist auf den Straßen dieses Landes jederzeit vorhanden. Welche Menschen in diesen Tagen eindeutig die Täter sind, lässt Faeser weg. Bloß nicht das eigene Weltbild zerstören …
    Auch die „Tagesschau“, noch Deutschlands größte Nachrichtensendung, schweigt auf ihrer Seite. Als vor ein paar Tagen junge Muslime schwedische Stadtviertel mit Schutt und Asche überzogen (nachdem Rechtsextreme provoziert hatten), war die Tendenz in vielen Berichten in Deutschland, zu verschweigen, wer die Täter sind, die Lage zu verdrehen.
    Und manche Menschen in Deutschland freuen sich klammheimlich, wenn sie den neuen Judenhass sehen: auch manche Linke hassen Israel, viele Rechtsextreme sowieso.

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