Die drei Frustketiere

Gastbeitrag, Roland Appel, 19.4.22
erstmals erschienen am 16.4.22 „Beueler Extradienst“
Der Tourismus nach Kiew scheint Politiker*innen in diesen Tagen auf ganz besondere Weise zu adeln. Jedenfalls ist ein Besuch bei Präsident Selenskij so etwas wie eine erstrebenswerte Goldmedaille bei – ja, was wohl? frage ich mich gerade – geworden zu sein. Ging es kurz vor oder nach Beginn des Putin-Überfalls noch um das Ziel, in irgendeiner Weise neben Solidarität, Unterstützung und Mitgefühl auch auf einen Waffenstillstand und ein Ende der Kämpfe hinzuwirken oder zumindest die Möglichkeiten hierfür auszuloten, zählen in Kiew anscheinend inzwischen nur noch solche Besucher, die noch mehr Geld für noch mehr Waffen oder noch schwerere Waffen mitbringen oder versprechen. Was genug ist, entscheidet Wolodomir Selenskij, wenn es sein muss, auch unter Mißachtung allen Anstands unter Freunden.
Obwohl die Bundesrepublik Deutschland neben den USA der größte Geldgeber für Rüstung und humanitäre Hilfe in der Ukraine ist, behaupten Selenskij und sein Botschafter Melnyk, dem sei nicht so, die deutschen stünden auf der Bremse. Dass bei einer Regierung, die unter der Drohung des völkerrechtswidrigen russischen Angriffskrieges steht, schon einmal die Nerven blank liegen können – geschenkt! Aber die öffentlich und über die BILD-Zeitung lancierte Ausladung des Bundespräsidenten war eine Missachtung und ein politischer Affront gegen das Staatsoberhaupt eines “befreundeten” Landes, der in der Geschichte seinesgleichen sucht. Die Umstände ihrer Veröffentlichung legen den Schluss nahe, dass damit die persönliche Unwerterklärung und der Versuch der Demütigung von Frank-Walter Steinmeier gemeint waren. Bis heute gibt es dafür nicht einmal die Andeutung einer Entschuldigung.

Drei instinktlose Mitglieder der Regierungsparteien

Genau zu dieser Zeit fahren drei Ausschussvorsitzende, Agnes Strack-Zimmermann (FDP), Verteidigung, Anton Hofreiter (Grüne), Europa, und Michael Roth (SPD), Auswärtiges, nach Kiew. Die Reise an sich genau zu diesem Zeitpunkt ist schon an sich eine Instinktlosigkeit angesichts der von Selenskij ausgelösten diplomatischen Irritationen. In nicht-Kriegszeiten wären diese Reisen sofort verschoben worden, zumindest das Programm auf reinen Informationsaustausch vor Ort und keine öffentlichen Statements beschränkt worden. Es ist normalerweise üblich, dass auch selbstbewusste Parlamentarier erst einmal nach ihrer Rückkehr in ihren Fraktionen berichten, bevor sie mit Stellungnahmen nach außen gehen. Nicht so Hofreiter, Strack-Zimmermann und Roth. Lauthals und über alle Sender, die es senden oder nicht senden wollten, forderten die drei unisono, “endlich” schwere Waffen an die Ukraine zu liefern, darunter Panzer, namentlich den Leopard I, Schützenpanzer Marder aus deutscher Produktion, sowie Waffen, Waffen, Waffen. Strack-Zimmermann verstieg sich dazu, den Kanzler der gemeinsamen Bundesregierung im Deutschlandfunk als Zauderer und nicht handelnd zu bezeichnen.

Alleingang einer kleinen Nebenregierung

Keine Sekunde Nachdenken, ob solche Forderungen angesichts des gerade miterlebten politischen Eklats vielleicht noch einmal genau überdacht werden sollten. Keine Sekunde Nachdenken, ob vielleicht die Lieferung deutscher Panzer an Länder, die beide von Deutschen und mit deutschen Waffen vor 78 Jahren überfallen wurden, wodurch in beiden Ländern Millionen Tote zu beklagen waren, ethisch genau bedacht und abgewogen werden sollten, weil sich Deutschland in einer anderen Situation befindet, als vielleicht Polen oder das Baltikum. Keinerlei Solidarität zu den eigenen Fraktionen, die vielleicht darüber beraten und abstimmen können wollten. Darf in dieser Koalition auch in Kriegszeiten jede*r machen, was er/sie will? Was treibt drei Bundestagsabgeordnete der Regierungskoalition dazu an, ihren eigenen Kanzler vom Ausland aus öffentlich anzugreifen, dadurch unter Druck zu setzen und eine nicht abgestimmte Neben-Außenpolitik zu betreiben?

Vom Ehrgeiz hingerissen?

Kann es der Frust über die Nichtberücksichtigung bei Koalitionsämtern und der öffentlich nicht befriedigte Ehrgeiz für ein Regierungsamt sein, der alle drei zu derartig illoyalem Verhalten gegenüber ihrer eigenen Regierung treibt? Bei Anton Hofreiter ist der tiefsitzende Frust, bei der Kabinettsbildung nicht berücksichtigt worden zu sein, offensichtlich. Schließlich wurde der “Realo” Cem Özdemir dem als gesetzt geltenden “links-gelabelten” Hofreiter-Toni als Landwirtschaftsminister vorgezogen. Ähnlich scheinen die Dinge bei Agnes Strack-Zimmermann zu liegen. Die langjährige FDP-Verteidigungsexpertin, die viele als Ministerin für dieses Ressort auf dem Zettel hatten, wurde von Lindner nicht berücksichtigt – zugunsten des Verkehrsressort-Chefs Volker Wissing. Und Michael Roth, der sich im Windschatten des blassen Außenministers Heiko Maas zum Staatsminister in Auswärtigen Amt hochgedient hatte, steht im Schatten von Fraktionschef Mützenich und ging bei der Regierungsbildung ebenfalls leer aus. Nun sollten bei allem menschlichen Verständnis für derartige Enttäuschungen nicht jedes Gefühl für Anstand, Verhältnismäßigkeit und Loyalität zur eigenen Fraktion und zur eigenen Regierung und das Interesse des ganzen Landes in Vergessenheit geraten.

Besoffen von der eigenen Wichtigkeit

Hofreiter, Roth und Strack-Zimmermann sind nicht als Privatpersonen in die Ukraine gereist, sondern als Repräsentanten des Bundestages in ihrer Eigenschaft als Ausschußvorsitzende und als Mitglieder ihrer Fraktionen und der Ampelregierung. Es mag verführerisch sein, ähnlich wie die Staatspräsidenten, die sich derzeit bei Selenkij die Klinke in die Hand geben und als Rüstungsbringer hofiert zu werden. All das kann schon besoffen von der eigenen Wichtigkeit machen – aber es geht gar nicht. Politik auf Zuruf über die Medien – gar noch Verteidigungs-, Rüstungs- und Außenpolitik (Europa kam gar nicht vor) und sich dabei noch von einer Regierung, die gleichzeitig den Bundespräsidenten düpiert und den Bundeskanzler unter Druck zu setzen versucht, instrumentieren zu lassen, – der Kanzler “solle endlich von seiner Richtlinienkompetenz Gebrauch machen” – gehts noch, Frau Strack-Z.? – ist ein klarer Fall von Geschäftsführung ohne Auftrag!  Es stünde allen drei Frustrierten gut an, sich bei ihren Fraktionen und bei Bundeskanzler Scholz für diese Illoyalität zu entschuldigen. Ich bin Bundeskanzler Scholz jedenfalls außerordentlich dankbar, dass er bei aller Solidarität mit der Ukraine mit Augenmaß und Besonnenheit handelt, Schaden von Deutschland abwendet, wie es sein Amtseid verlangt.

Roland Appel ist Publizist und Unternehmensberater, Datenschutzbeauftragter für mittelständische Unternehmen und tätig in Forschungsprojekten. Er war stv. Bundesvorsitzender der Jungdemokraten und Bundesvorsitzender des Liberalen Hochschulverbandes, Mitglied des Bundesvorstandes der FDP bis 1982. Ab 1983 innen- und rechtspolitscher Mitarbeiter der Grünen im Bundestag. Von 1990-2000 Landtagsabgeordneter der Grünen NRW, ab 1995 deren Fraktionsvorsitzender. Seit 2019 ist er Vorsitzender der Radikaldemokratischen Stiftung, dem Netzwerk ehemaliger Jungdemokrat*innen/Junge Linke. Er arbeitet und lebt im Rheinland.

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