Aufruf zu antirassistischen Aktionstagen vom 11. bis 18. Mai 2013

Im Jahr 2012 jährten sich das rassistische Pogrom in Rostock-Lichtenhagen sowie der rassistisch-motivierte Brandanschlag in Mölln, bei dem drei Menschen getötet wurden, zum 20. Mal. Vermeintlich beeinflusst und angetrieben durch die Ereignisse Anfang der 1990er Jahre, nutzten CDU/CSU und FDP, unterstützt durch die Stimmen der SPD, die Situation, um ein lang gehegtes Vorhaben umsetzen zu können: die faktische Abschaffung des Grundrechts auf Asyl durch die Änderung des Artikel 16 des Grundgesetzes. Diese institutionelle Folge der rassistischen Zustände hat am 26. Mai 2013 seinen 20. Jahrestag, ebenso wie drei Tage später das Gedenken an den rassistisch-motivierten Brandanschlag in Solingen am 29. Mai, bei dem fünf Menschen durch Neonazis getötet wurden.

Dennoch: 2012 war auch ein Jahr des Aufbruchs. Geflüchtete, Migrant*innen und Asylsuchende organisierten eine neue antirassistische Offensive: Protest und Widerstand gegen rassistische Gesetzgebung und Gewalt, gegen Lagerunterbringung und Abschiebung, gegen Alltagsrassismus und Ausgrenzung gewannen eine neue Stärke und Breite.

Daran anknüpfend soll mit vielfältigen Aktionen in verschiedenen Orten auch 2013 das offensive Agieren fortgesetzt werden. Ein konkreter Beitrag sind die Aktionstage, initiiert durch die bundesweite Kampagne “Rassismus tötet!” vom 11. bis 18. Mai sowie die Demonstrationen in Berlin und Solingen am 25. Mai 2013.

Migration – Flucht

Migration ist kein neues oder gar ungewöhnliches Phänomen, denn Menschen bewegen sich seit Jahrtausenden über den gesamten Erdball – letztlich ist jeder Entwicklungsschritt der Menschen notwendig an diese Freiheit der Bewegung gekoppelt.

Ein erheblicher Anteil der den Wohnort wechselnden Menschen macht dies nicht freiwillig. Sie fliehen vor Kriegen oder Naturkatastrophen, aufgrund ihrer sozio-ökonomischen Lage, politischer Repression oder sexueller Diskriminierung. Der größte Teil flüchtender oder migrierender Menschen kam bis Ende des II. Weltkrieges aus Europa und ist bis heute die größte überregionale Migrationsgruppe weltweit.

2011 waren 42,5 Millionen Menschen auf der Flucht – davon suchte weniger als eine Million Zuflucht über die Grenzen ihres Herkunftslandes hinaus. Diejenigen, die weite Wege zurücklegen, um in vermeintliche Sicherheit zu gelangen, kommen vor allem aus Afghanistan, dem Irak und Somalia, und in jüngster Zeit auch verstärkt aus den Teilstaaten des ehemaligen Jugoslawien. Diese Staaten verdeutlichen beispielhaft, dass die Notwendigkeit zur Flucht vor allem Folge aggressiver Außenpolitik und kapitalistischer Ausbeutung ist. Die Geschichte der deutschen und europäischen Migrations- und Asylpolitik ist eine Geschichte der Abschreckung und Abschottung. Darüber können auch die Phasen von liberaler Asylgesetzgebung und Beförderung von arbeitskraftorientierter Einwanderung nicht hinwegtäuschen.

Die Einführung des Grundrechtes auf Asyl als Konsequenz aus dem Nationalsozialismus

Das mit dem Grundgesetz der BRD 1949 in Kraft tretende Asylrecht galt als liberal. Unter der Obhut der Alliierten stehend, wurde in das Gründungsdokument des postnationalsozialistischen Westdeutschland ein schrankenloses Asylrecht formuliert: „Politisch Verfolgte genießen Asylrecht“, hieß es in Artikel 16 Absatz 2, Satz 2 GG. Dieses nicht einzuschränkende Grundrecht auf Asyl war eine Konsequenz aus dem Nationalsozialismus, der verantwortlich war für die Flucht von Millionen Menschen.

War die Zahl von geflüchteten Migrant*innen in den Nachkriegsjahren noch relativ klein, warb die BRD für ihr „Wirtschaftswunder“ ab 1955 gezielt so genannte Gastarbeiter*innen aus dem Ausland an. Damit war jedoch vor dem Hintergrund von Öl- und Wirtschaftskrise in den 1970er Jahren dann Schluss: 1973 wurde ein Anwerbestopp erlassen, Anfang der 1980er Jahre sogar Maßnahmen zur “Förderung der Rückkehrbereitschaft” der Gastarbeiter*innen ergriffen. Auf Initiativen der Problem- und Konfliktbewältigung im Alltag hatten sämtliche Regierungen bewusst verzichtet, da sie davon ausgingen, dass die so genannten Gastarbeiter*innen wieder verschwinden würden, wenn sie nicht mehr gebraucht würden.

Die Wegebnung zur Abschaffung des Artikel 16 Abs. 2 GG und die Folgen

Ab den 1970er Jahren erhöhte sich, vor allem durch internationale Konflikte, die Zahl von Asylsuchenden – im Zusammenhang mit den Kriegshandlungen im zerfallenden Jugoslawien seit den 1990ern zunehmend auch innereuropäisch. In diesem Zusammenhang wurde das Grundrecht auf Asyl für politisch Verfolgte sukzessive ausgehöhlt. Zum einen wurde die Herleitung des Begriffs der politischen Verfolgung verschoben. Es ist nun nicht mehr die individuell erlittene und befürchtete Bedrohung des*der Geflüchteten entscheidend, sondern maßgeblich sind nun die Gründe, aus denen heraus im Herkunftsland die Verfolgung betrieben wird. Damit wurde es möglich innenpolitische Situationen wie bspw. die Folterpraxen zu leugnen und als „ortsübliche Strafinstrumente“ zu legitimieren. Darüber hinaus begann die BRD, restriktive Maßnahmen wie die Visapflicht einzuführen: Durch die Einführung der Visapflicht für türkische Staatsbürger*innen im Jahr 1980, halbierte sich die Zahl der Asylantragsstellenden.

Das gesellschaftliche Abwehrklima gegen Migrant*innen wurde maßgeblich in den 1980er Jahren geprägt. Zunächst begannen rechte Parteien und Politiker*innen das Thema Asyl auf ihre politische Agenda zu setzen, 1986 führten CDU/CSU eine demagogische Kampagne gegen eine vermeintliche „Asylantenflut“.

Ebenso wurden in dieser sich anheizenden rassistischen Stimmung zwischen 1980 und 1982 die Maßnahmen eingeführt, die auch heute noch die deutsche Asylgesetzgebung prägen: Arbeitsverbote, Unterbringung in Lagern und Residenzpflicht. Doch diese klar zur Abschreckung von Geflüchteten gedachten Instrumente konnten ihre Intention nicht erfüllen. Die rassistische Stimmung(smache) eskalierte. Ausgehend von den mehrere Tage andauernden Angriffen auf ein Heim von Vertragsarbeiter*innen und auf eine Unterkunft von Asylsuchenden im September 1991 in Hoyerswerda, brach sich der Mob aus Nazis und Bürger*innen, flankiert durch eine rassistische Medienberichterstattung, bundesweit Bahn. Die offiziellen Stellen feuerten die Pogrome und Brandanschläge dadurch an, dass sie Geflüchtete abwiesen und sich selbst überließen und bei rassistischen Übergriffen nicht intervenierten. Exemplarisch dafür steht Rostock-Lichtenhagen 1992. Von hier ging es schnellen Schrittes zum sogenannten Asylkompromiss. Mit Stimmen von CDU/CSU, FDP und SPD beschloss der Bundestag am 26. Mai 1993 mit der notwendigen 2/3-Mehrheit die Streichung des Artikel 16 Abs. 2, Satz 2 GG („Politisch Verfolgte genießen Asylrecht.“) und führte den neuen Artikel 16a GG ein. Dieser nimmt den Asylrechtsanspruch für politische Verfolgte auf, höhlt ihn jedoch mit einer Reihe von Einschränkungen aus.

Durch die Grundgesetz-Änderung können sich nur noch die Menschen auf das Recht auf Asyl berufen, die nicht über einen „sicheren Drittstaat“ eingereist sind. Dass diese Regelung der verstärkten Abwehr von Schutzsuchenden dient, zeigt sich darin, dass Deutschland komplett von so genannten sicheren Drittstaaten umgeben wird. Deswegen und aufgrund des EU-Festungswalls, der unter krassen Lebensbedrohungen überwunden werden muss, schaffen es kaum noch Menschen einen rechtmäßigen Asylantrag in Deutschland zu stellen. Mit dem DUBLIN-II-Abkommen wird die so genannte Drittstaatenregelung auch innerhalb der EU übernommen: das EU-Land, in dem Asylsuchende zuerst angekommen sind, ist demnach zuständig für das Asylverfahren und für alle grundlegenden Überlebensleistungen. Auch DUBLIN II nutzt vor allem der deutschen Intention einer Anti-Asylpolitik, die mit Frontex und dem Schengener Informationssystem SIS II tragend für die Asylpolitik der gesamten EU ist.

Auch auf dem Luftweg versucht Deutschland, die Einreise von Fliehenden zu unterbinden. Wer als Geflohene*r identifiziert wird, sieht sich mit einem oberflächlichen Schnellverfahren konfrontiert. Damit wird auch die letzte Spur der sowieso zweifelhaften rechtsstaatlichen Asylverfahrensmethoden über Bord geworfen. Das Ergebnis heißt hier – noch schneller als „gewohnt“ – Abschiebung!

Die BRD vermochte es mit diesem Grundrechtseingriff die Asylzahlen drastisch zu senken – zwischen 1992 und 2011 um ca. 90 % . Gesetzgebung und mediale Stimmungsmache schufen und schaffen einen rassistischen Grundton, der Migrant*innen sowie ihre Nachkommen ganz praktisch an den Rand dieser Gesellschaft drängt und zum Freiwild für Diskriminierung durch Behörden und Gewalt auf der Straße macht.

Wenn im Jahr 20 nach Rostock, Mölln, Solingen und einer Verfassungsänderung, die den rassistischen Mob zusätzlich befeuerte, der Bundesinnenminister Friedrich erneut gegen „Armutszuwanderung“ hetzt, dann zumindest scheint die Uhr zurückgedreht. Auch Anfang der 1990er waren es vom Bürgerkrieg-Betroffene aus Ex-Jugoslawien, darunter viele Rom_nija und Sinti_zze, die in den Fokus der „Boot ist voll“-Rhetorik genommen wurden. Heute sind sie abermals die ersten Opfer rassistischer Hetze und nationalistischen Stimmenfangs.

Im Schlepptau der Grundgesetz-Änderung wurde mit dem Schreckgespenst des „Asylmissbrauchs“ Politik gemacht und die Sozialleistungen für Geflohene mit dem Asylbewerberleistungsgesetz unter den damaligen Sozialhilfesatz abgesenkt. Im Juli 2012 entschied das Bundesverfassungsgericht, dass diese Regelung gegen das Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums verstößt, die Sätze angehoben werden und eine generelle Neuregelung getroffen werden muss. Das rassistische Sondergesetz an sich tastete das Bundesverfassungsgericht jedoch nicht an.

Die rassistische Hetzrhetorik bleibt heute zwar weniger unwidersprochen als Anfang der 1990er Jahre, rassistische Stereotype allerdings sind tief in das (mehrheits-) gesellschaftliche Bewusstsein eingeschrieben. Nicht zuletzt die rassistische Mordserie des NSU, das Unvermögen und der Unwillen staatlicher Behörden, diese zu unterbinden oder auch nur die Motivlage zu erkennen, zeugen von der rassistischen Durchdringung des Staatsapparates. Bundesweit machen an den verschiedensten Orten Bürger*innen gegen die Errichtung von Unterkünften für Asylsuchende in ihrer Nachbarschaft mobil.

Beteiligt euch!

So einfach es ist, die rassistische Durchdringung der Gesellschaft zu analysieren und die Abschaffung von rassistischen Sondergesetzen zu fordern, so schwer ist es, dies in die Realität umzusetzen. Der sukzessiven Abschaffung des Grundrechtes auf Asyl, den rassistischen Pogromen und der entwürdigenden Sonderbehandlung von Geflüchteten vermochte eine Linke nicht genügend entgegenzusetzen. Seit 2012 erleben wir eine neue Offensive antirassistischer Politik und migrantischer Selbstorganisation.

Hier wollen wir ansetzen, ohne Illusionen zu erliegen, dass wir dieses System stürzen können. Der Kampf gegen Rassismus muss Bestandteil eines Kampfes für eine emanzipatorische Gesellschaft sein, die mit der Überwindung von Ausbeutungs- und Herrschaftsverhältnissen verbunden ist.
Doch dazu braucht es starke Bündnisse, es braucht Unterstützung der selbstorganisierten Kämpfe der Betroffenen, die öffentliche Benennung und Ächtung von Rassismus. Mit einer Aktionswoche wollen wir einen weiteren Schritt machen und Rassismus als gesellschaftliches Produkt in die Öffentlichkeit bringen.

Dies ist ein Aufruf zur Beteiligung an den Aktionstagen vom 11. bis 18. Mai 2013 im Vorfeld der bundesweiten Demonstrationen in Berlin und Solingen am 25. Mai 2013. Organisiert euch und Aktionen in eurer Stadt oder nehmt daran teil!

Rassismus in Behörden und durch Gesetze gehören ebenso thematisiert wie rechte und rassistisch-motivierte Morde und die gerichtliche Ausblendung der Motive, rassistische Bürger*inneninitiativen, koloniale Spuren, rassistische Polizeikontrollen und Medienberichterstattung!

Rassismus auf allen Ebenen angreifen!

Aufruf Aktionstage zum download
Übersicht bundesweite Aktionen

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