Offener Brief zum Pakt für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung

Offener Brief an Fraktionsvorstand, die Bundestagsfraktion, den Bundesvorstand, den Parteirat

Wisst Ihr, was Ihr wollt?

21.06.2012

Liebe Freundinnen und Freunde,
einem Fiskalpakt zuzustimmen, nachdem die Bundeskanzlerin vollmundig von der Opposition zu Nachbesserungen aufgefordert wurde, auf die nun verzichtet wird, halten wir nicht für blauäugig, sondern aus der Erfahrung heraus für unverantwortlich. Echte Zugeständnisse machte die Kanzlerin keine, „Beruhigungspillen“, die eher einer einvernehmlichen Sprachregelung zwischen Regierung und Opposition ähneln, macht sie nur, weil sie eine 2/3-Mehrheit benötigt. Bald wird es aus dem Bundeskanzleramt heißen, man habe sich bemüht, aber die anderen Euro-Länder ziehen nicht mit und uns wird man eben dies seitens unserer Fraktion unter zur Schaustellung tiefsten Bedauerns erzählen. Setzen, sechs!
Auf Seite 2 des „Pakt für nachhaltiges Wachstum und Beschäftigung“ steht: In der EU liegt der Richtlinienvorschlag der Kommission vom 28.September 2011 zur Einführung einer EU-weiten Finanztransaktionssteuer vor. Die Bundesregierung hat diesen Vorschlag unterstützt und wäre dazu auch weiterhin bereit. Da die Zustimmung aller 27 Mitgliedstaaten aber nicht erreichbar ist, wird sich die Bundesregierung gemeinsam mit anderen Mitgliedstaaten auf dem Europäischen Rat am 28./29. Juni 2012 für den Weg der Verstärkten Zusammenarbeit einsetzen. Sie wird unverzüglich einen Antrag auf Einführung einer Finanztransaktionssteuer im Wege der Verstärkten Zusammenarbeit stellen und die Kommission im weiteren Verfahren nach Kräften unterstützen. Die Bundesregierung erwartet, dass die Kommission diesem Vorhaben höchste Priorität einräumt und ihrerseits umgehend alle Schritte einleitet, damit das europäische Gesetzgebungsverfahren möglichst bis Ende des Jahres 2012 abgeschlossen werden kann. Die nationale Umsetzung erfolgt dann unverzüglich. Sollte es nicht zu einer verstärkten Zusammenarbeit kommen, wird sich die Bundesregierung dafür einsetzen, eine Besteuerung in möglichst vielen Mitgliedsstaaten im Rahmen der zwischenstaatlichen Zusammenarbeit zu erreichen.
Eine Kanzlerin, die sich als die Thatcher Europas aufspielt, die den Menschen in Griechenland die Schlinge umlegt, fordert, sie alleine die Krise zahlen zu lassen, anstatt eine Art Marshallplan zu entwerfen. Das Wortgeklingel um Hilfen („Beratung für bessere Regierungsführung“) verlangsamen das Sterben der Wirtschaft nicht. In erster Linie geht es darum, die Gläubiger zu bedienen, rücksichtslos und wenn darüber eine europäische Gesellschaft zusammen bricht. Gläubiger, die nichts anderes als Haifische sind, die kassieren, solange sie können und meist kein Interesse an einer Stabilisierung Griechenlands haben, sondern auf Pleite gesetzt haben, um dann nochmals groß abzuzocken. Andere Länder wie Portugal, Spanien und Italien wurden bereits angeschossen, auf den Schwächsten werden sich diese Spekulanten nun ebenfalls stürzen. Und so wird es weitergehen, das Ende kann sich wohl jedeR vorstellen.
Wir haben es erwartet: Nach Schockdiskussionen um „Lehmans“ wurden dem Finanzmarkt in Europa natürlich keine Fesseln angelegt. Alles geht nicht nur einfach so weiter wie gehabt, im Gegenteil, da baut sich bereits die nächste große Blase auf.
Nun werden in dem Pakt verschiedene Punkte angesprochen:
Wachstum, wie auch immer es heute gemeint sein könnte, impliziert immer noch den Begriff vom „ewigen Wachstum“, das über Jahrzehnte der Bevölkerung weismachte, dass es nämlich ewig und stetig „nach oben ginge“. Und das nachhaltige Wachstum ist nun wirklich nichts anderes. Nachhaltig ohne Ende, ohne Rücksicht auf andere, so wie Wachstum immer gemeint war. Wo ist unser globales Denken und lokales Handeln geblieben? Wo ist die soziale Komponente? Schon 1996 wurde innerhalb der Partei die Abkehr vom Gedanken der Vollbeschäftigung gefordert (u.a. Annelie Buntenbach, MdB, heute DGB-Vorstand), weil sich die Situation für die Menschen geändert hat, Arbeitslosigkeit im Lebenslauf normal geworden ist, Jobs heute gezwungenermaßen immer wieder gewechselt werden. Wir wollen die Abkehr vom Begriff „(nachhaltiges) Wachstum“, natürlich auch von einem solchen Denken.
Lohnzuschüsse: „Die Bundesregierung wird sich beim Europäischen Rat am 28.06.2012 dafür einsetzen, dass befristete Einstellungszuschüsse für Unternehmen aus dem ESF finanziert werden können. Durch zeitlich befristete Lohnzuschüsse sollen Anreize für Unternehmen in den Mitgliedstaaten mit besonders hoher Jugendarbeitslosigkeit gesetzt werden, Jugendliche auszubilden oder neu einzustellen.“
Wird hier nicht einfach ein befristetes Lohndumping gefördert, wie wir es auch schon oft bei Programmen der Bundesregierung erlebt haben und erleben? Arbeitgeber stellen Jugendliche ein bis zum Ablauf der Förderung, dann werden wieder andere Jugendliche eingestellt, usw. und so fort. Hinzu kommt, wenn es keine neuen Absatzmärkte, also Bedarf an Arbeitskräften gibt, woher sollen dann die neuen Arbeitsplätze kommen? Wir vermuten: wieder durch Entlassung älterer ArbeitnehmerInnen.
Wirtschaftspolitik: „Die Krise in der Eurozone hat deutlich gemacht, dass die Stabilität der Finanz- und Währungsunion eine verstärkte Integration der Wirtschaft- und Finanzpolitik erfordert.“
Die Schwäche einzelner Euro-Länder und die Stärke anderer, das ist inhärent, dem Kapitalismus eigenes Wesen. Dass mit der Einführung des Euro nicht auch eine Wirtschafts- und Finanzunion eingeführt wurde, rächt sich nun, wenn man schlicht systemimmanent denkt. Davor haben bereits bei der Einführung des Euro zahlreiche prokapitalistische Wirtschaftsexperten gewarnt (sie sehen sich aktuell bestätigt). Während viele Euro-Länder große Probleme haben, geht es der deutschen Industrie gut, zu Lasten der anderen, oder um es einmal grob zu formulieren: Das erfolgreiche Rüstungsgeschäft der einen ist die Misere der anderen.
 
Wir verstehen euer (Fraktions-)Verhalten nicht.
Weshalb stimmt Ihr einem der wohl schwerwiegendsten Antieuropäischen Maßnahmen zu?
Weshalb nehmt ihr das Ergebnis der Länderratsberatungen vorweg? Ihr wisst, dass aus gutem Grund bereits viele Kreisverbände eine Sonder-BDK fordern, nach nur 3 Wochen haben bereits deutlich über 30 KVe einen entsprechenden Beschluss gefasst.
Weshalb greift ihr bei einer der wichtigsten europäischen Weichenstellungen der nächsten Jahrzehnte dem höchsten Beschlussgremium der Partei vor, bzw. weshalb beruft ihr keine Sonder-BDK von euch aus ein?
Warum habt ihr euch nicht dafür eingesetzt, dass der Bundestag im Herbst erst beschließt?
Geht es nur darum, dass sich einige ihr Lebensziel verwirklichen wollen, nämlich MinisterIn oder gar Vizekanzler zu werden und dabei die politischen Ziele vergessen und die Partei dazu nötigen, ihnen zu folgen?
Vor einem Jahr lagen die Grünen in den Umfragewerten bei 20% und darüber, heute sind sie praktisch wieder bei ihrem „Normalwert“ angelangt. Warum wohl? Warum müsst Ihr Euch „regierungsfähig“ zeigen und die Partei erscheint deutlich seltener in den Medien, weil sie sich nicht mehr oppositionsfähig zeigt. Von einem sicheren rot-grün sind wir wieder weit entfernt, und wenn die Umfragwerte sich nicht wieder ändern, so gibt es nur die Möglichkeit einer großen Koalition. Aus der Traum!
Wir, die UnterzeichnerInnen erwarten von Euch, liebe Freundinnen und Freunde, dass Bündnis 90/Die Grünen Profil zeigt, bei vielen Themen, wie Fiskalpakt, Blockupy Frankfurt, …
Wir wollen eine Partei, die sichtbar ist, die neue Wege aufzeigt, sich abkehrt von Begriffen wie Wachstum, Vollbeschäftigung etc., die den BürgerInnen einen Weg in eine (ziemlich) sichere Zukunft aufzeigt und sie nicht weiter bangen lässt.
 
Viele Grüße,
 
Ralf Henze (KV Odenwald-Kraichgau) und Simon Lissner (KV Limburg-Weilburg)
 
 

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