NATO 3.0 oder: Der Nordpakt kommt

von Uli Cremer

– veröffentlicht in „Das Blättchen“ –

Im Dezember stritten sie sich mal wieder wie die Kesselflicker: Beim NATO-Russland-Rat hatten sich beide Seiten trotz langjähriger Diskussionen nicht über die NATO-Raketenabwehrpläne verständigen können. Moskau drohte mit der Stationierung von Kurzstreckenraketen in Kaliningrad, so dass sich viele mediale Beobachter in die 80er Jahre und den guten alten Kalten Krieg zurückversetzt sahen. Geschichten, die auf die These einzahlen, „NATO kreist Russland ein“, und die die alte Blockkonfrontation wieder aufleben lassen, gehen immer gut. Mental sind viele bei der alten NATO, der NATO 1.0, stehen geblieben.
Mit der Realität haben solche Geschichten wenig bis nichts zu tun. Der Ost-West-Konflikt ist unwiderruflich beendet, die Sowjetunion ist aufgelöst. Rechtsnachfolger Russland ist ein normales kapitalistisches Land. In Wirklichkeit sind „Westen“ und Russland ökonomisch verflochten. 70 Prozent des russischen Außenhandels wird mit westlichen Ländern abgewickelt. Russland und der Westen pflegen gute Beziehungen und sind sogar militärisch verbündet. Die Putin-Ära hat daran nichts geändert, sie hat die Zusammenarbeit stattdessen vertieft – allem Putin-Bashing in den westlichen Medien zum Trotz. Die Waffen der NATO und Russlands richten sich immer weniger gegeneinander, sondern beginnen sich zu ergänzen.
Eigentlich sind die Fakten eindeutig: Die Neue NATO, also die NATO 2.0, entstand in den 90er Jahren. Dazu gehörte, dass 1994 Russland (wie auch andere ehemalige Staaten des Warschauer Paktes) mit der NATO ein Abkommen im Rahmen der NATO-Partnerschaft für den Frieden schloss. 1997 wurden die Grundakte NATO-Russland verabschiedet und ein Ständiger Gemeinsamer Rat eingerichtet sowie erste gemeinsame Militärmanöver abgehalten. US-Präsident Bill Clinton stellte Russland die Aufnahme in die NATO in Aussicht.
Wie in anderen Beziehungen auch gab es zwischenzeitlich natürlich manchen Streit, zum Beispiel beim Kosovo-Krieg 1999 oder beim Südossetien-Krieg 2008. Das ist immer Futter für jene, die von den Schablonen des Kalten Krieges nicht ablassen können. Aber auch das Verhältnis zwischen Frankreich und den USA war über mehrere Jahrzehnte nie konfliktfrei. Erst 2009 kehrte Paris nach 42 Jahren wieder in die Militärorganisation der NATO zurück.
Entscheidend ist, dass Russland seit 2001 sehr konsequent den NATO-Afghanistankrieg unterstützt und alles tut, der NATO zum Sieg zu verhelfen. Nur eigene Truppen will Russland vor dem Hintergrund des letzten Afghanistankrieges nicht einsetzen. Seit Dezember 2011 ist auf Grund der Bombardierung eines pakistanischen Grenzpostens gerade einmal wieder die Nachschubroute der NATO durch Pakistan blockiert. Umso wichtiger ist die Nordroute von Russland über Usbekistan, die schon im Afghanistankrieg der Roten Armee benutzt wurde. Da trifft es sich gut, dass Ende 2011 eine neue Eisenbahnstrecke von Usbekistan nach Mazar-e-Sharif fertig gestellt wurde. Während Deutschland bereits 2003 ein Transitabkommen schloss, das erlaubt, den Bundeswehr-Nachschub über russisches Gebiet abzuwickeln, dürfen die USA die Route erst seit 2009 nutzen – nachdem die Obama-Regierung die „Reset-Taste“ im Verhältnis mit Russland gedrückt hatte.
Russische Expertise in Sachen Afghanistankrieg wird seitens der USA schon länger gern eingekauft. So fliegen seit einigen Jahren in Afghanistan frühere Piloten der Roten Armee die gleichen Hubschrauber wie in den 80ern. Statt ihren Sold aus Moskau zu empfangen, stehen sie heute als Söldner auf der Payroll des Pentagon. Öffentlich bekannt wurde dieses aufschlussreiche Detail, als die afghanischen Aufständischen 2008 ein entsprechendes Fluggerät abschossen und Russland sich um die Bergung der beiden toten russischen Staatsbürger kümmerte.
Dimitri Rogosin (russischer Vertreter bei der NATO), der der NATO verbal sonst gern die Pest an den Hals wünscht, weiß durchaus zu schätzen, dass die NATO in Afghanistan den Job für Russland mitmacht: Wenn sich die Nato aus Afghanistan zurückziehe – dann werde es für Russland gefährlich. Denn: Ein Rückzug der Nato würde von allen Extremisten, die sich in und um Afghanistan tummeln, als Einladung aufgefasst, den Kampf über die Grenzen Afghanistans hinaus nach Norden zu tragen, um sich am Ende gegen Russland zu wenden. Das sei der Grund, so Rogosin, weshalb Russland ein „objektives Interesse“ am Erfolg des Westens in Afghanistan habe.
Auch bei anderen internationalen Krisen hat sich Russland an die Seite des Westens gestellt. Zuletzt wurde im UN-Sicherheitsrat kein Veto gegen den Libyen-Krieg eingelegt. Das Gemaule hinterher, die NATO haben den Rahmen des UN-Mandats überschritten, sollte man nicht überbewerten. Die russische Regierung wusste, was sie tat und was passieren würde.
Die Perspektive der Einbeziehung Russlands in die NATO wird besonders von deutscher Seite forciert. Hinter den Kulissen verhinderte Berlin, dass die Ukraine oder Georgien NATO-Mitglied wurden. Noch wichtiger ist aber die inzwischen formierte Allianz mit Warschau. Sowohl die deutsche Kanzlerin Angela Merkel, als auch der polnische Außenminister Radoslaw Sikorski können sich Russland in der NATO vorstellen. Um diese Idee ins Gespräch zu bringen, verfassten im September 2011 Sergej Karaganow (Leiter des Rates für Außen- und Verteidigungspolitik, eines einflussreichen russischen Think-Tanks), Andrzej Olechowski (in den 90er Jahren polnischer Außenminister) und Horst Teltschik (unter Helmut Kohl Vizechef des Bundeskanzleramtes und nachmaliger Geschäftsführer der Münchener Sicherheitskonferenz) in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Namensartikel unter dem Titel „Frieden und Sicherheit von Vancouver bis Wladiwostok“. Das klingt nach kollektivem Sicherheitssystem und Abrüstung, aber im Grunde geht es um die Formierung eines Militärpakts des Nordens, den Nordpakt, die NATO 3.0. Der ehemalige Planungschef von Verteidigungsminister Volker Rühe, Ulrich Weiser, sieht die NATO in diesem Sinne künftig als strategischen Rahmen für die Dreiergruppe Nordamerika, Europa und Russland.
Die Entwicklung hin zum Nordpakt ist dem schwindenden Einfluss des Westens in der Welt geschuldet. 2030, so sagen die Prognosen, werden die aufstrebenden Mächte China, Indien, Brasilien, Südafrika und andere asiatische, afrikanische und lateinamerikanische „Tiger“ zusammengenommen den Westen ökonomisch überholt haben. Vor diesem Hintergrund haben sich die US-Eliten inzwischen damit abgefunden, dass sie die Macht stärker mit den EU-Staaten teilen müssen. Heutzutage ist es selbstverständlich, dass US-Soldaten unter dem Kommando anderer NATO-Staaten stehen, vor 20 Jahren war das undenkbar. Im Libyen-Krieg war die US-Regierung mit einem Platz in der zweiten Reihe zufrieden und überließ Frankreich und Britannien die Führung. In 20 Jahren darf dann vermutlich auch einmal ein russischer General bei einer gemeinsamen Intervention das Kommando über irgendeinen militärischen US-Verband ausüben.
Der Nordpakt hat mit den historisch erledigten Dimensionen West gegen Ost nichts mehr zu tun. Er ist gegen den Süden gerichtet. In Zukunft muss man auf gemeinsame Militärinterventionen des Nordpakts in Afrika oder Asien einstellen. Mit dem Nordpakt wird die Welt nicht friedlicher. Denn da sich mit NATO und Russland Mächte zusammentun, denen ökonomisches, politisches und kulturelles Gewicht global abnimmt, dürfte die Neigung, militärische Mittel einzusetzen, zunehmen. In puncto militärischer Macht wird dem Nordpakt, der heute über 80 Prozent der Weltmilitärausgaben bestreitet, in den nächsten Jahrzehnten niemand das Wasser reichen können. Auch China nicht.
 
 
Kontakt:
Uli Cremer 0160 / 81 21 622
cremer@gruene-friedensinitiative.de

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