Hans-Christian Ströbeles Rede im Bundestag zu Afghanistan

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Herr Präsident! Liebe Kolleginnen und Kollegen!
Seit zehn Jahren führen wir mit unserer Parlamentsarmee in Afghanistan Krieg. Seit vier, fünf Jahren führen wir ihn mit immer mehr Soldaten und immer schrecklicher. Das Ergebnis dieses Krieges ist bisher desaströs: Zehntausende von Menschen sind getötet worden, eine mehrfache Zahl von Menschen ist in Afghanistan Opfer dieses Krieges, verletzt und zu Krüppeln geworden. Trotz immer neuer Truppenverstärkungen und einer Verschärfung des Krieges ist die Sicherheitssituation für die Bevölkerung in Afghanistan jedes Jahr schlechter geworden. So schlecht wie derzeit war sie noch nie.
Das müssen wir zur Kenntnis nehmen. Wir können nicht einfach sagen: „Wir machen weiter so“, sondern wir müssen neue Wege gehen. Für diese neuen Wege gibt es Möglichkeiten, und es gibt Aussicht auf Erfolg. Es kann nicht heißen: „Wir führen den Krieg mindestens drei Jahre weiter“, sondern es muss heißen: Es muss eine Kehrtwendung von dem Einsatz in Afghanistan hin zur Beendigung des Krieges stattfinden, und zwar sofort. – In diesem Punkt gebe ich dem Kollegen Gehrcke ausdrücklich recht. Der Krieg muss beendet werden. Im letzten Jahr sind allein in drei Monaten von den USA 1 485 sogenannte verdeckte Operationen von Spezialkräften durchgeführt worden, bei denen 485 Menschen getötet worden sind und durch die unendlich viel Leid angerichtet worden ist. Das kann nicht sein.
Wenn Sie das hochrechnen, kommen Sie auf über 5 000 solcher Angriffe in einem Jahr. Wir können nicht erwarten, dass auf der anderen Seite nichts passiert. Diese Angriffe führen vielmehr zu einer Verschärfung des Krieges.
Sie führen dazu, dass die Taliban jeden Tag stärker werden, dass sich immer mehr Menschen aus Hass und deshalb, weil sie Vergeltung üben wollen, dem Krieg der Aufständischen gegen die NATO anschließen. Deshalb ist ein neuer Weg erforderlich.
Nun stimme ich dem Antrag der Linken trotzdem nicht zu. Ich glaube, dass die immer gleiche Wiederholung in dem Antrag, sofort alle Truppen aus Afghanistan abzuziehen, falsch ist. Dass das funktioniert, lieber Kollege Gehrcke, glaubt ihr selber nicht. Das ist nicht möglich.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN sowie bei Abgeordneten der SPD)

Das ist im Augenblick auch nicht die erste Priorität. Die erste Priorität muss sein, den Krieg zu beenden.

(Wolfgang Gehrcke (DIE LINKE): Ja, eben!)

Das heißt, man muss morgen erklären, dass keine solchen Offensivmaßnahmen und keine offensiven Großoperationen mehr stattfinden; stattdessen fangen wir zum Zeichen der Versöhnung mit dem Abzug an. Wir sollten aber nicht das machen, was Herr Westerwelle jetzt offenbar vorhat. Noch vor einem Jahr hat er hier im Deutschen Bundestag erklärt, Ende des Jahres 2011 würden die ersten deutschen Truppen aus Afghanistan abgezogen. Davon ist keine Rede mehr. In diesem Jahr werden keine Truppen abgezogen; man vertröstet uns vielmehr auf das nächste Jahr. Das ist der falsche Weg.

Wir müssen Zeichen setzen, und wir müssen nach der Erklärung eines Waffenstillstandes deutlich auf die Taliban zugehen und sie in Verhandlungen einbinden. Sie sind dazu bereit. Ich war im September in Afghanistan und habe das von vielen dort gehört, nicht nur von ehemaligen Mitgliedern der Regierung der Taliban, sondern auch von vielen anderen. Es kann allerdings nicht sein, dass die Menschen, die in Verhandlungen mit der Regierung Karzai und den Alliierten eintreten, anschließend in ihrer Wohnung von Spezialkräften der USA aufgesucht, aus ihren Wohnungen herausgeholt, an die Wand gestellt und ermordet werden, wie es in Afghanistan stattgefunden hat. Das führt nicht zum Frieden. Die Verhandlungen müssen vielmehr von Sicherheitsgarantien für alle diejenigen begleitet sein, die verhandlungsbereit sind und in Verhandlungen eintreten.

Das ist der Weg aus der Misere. Dieser Weg muss bestritten werden, und zwar nicht erst in drei Jahren oder nächstes Jahr, sondern ab diesem Jahr, jetzt sofort.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN)

Vizepräsident Eduard Oswald:
Zu einer Kurzintervention hat unser Kollege Dr. Rainer Stinner das Wort.

Dr. Rainer Stinner (FDP):
…..

Vizepräsident Eduard Oswald:
Herr Kollege Ströbele, Sie haben die Möglichkeit zur Antwort.

Hans-Christian Ströbele (BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN):
Es ist doch schön, dass ich hier zu diesem Thema einmal zu Wort komme. – Herr Kollege, ich lese Ihnen einmal vor, was Ihr Außenminister am 15. oder 16. Dezember vergangenen Jahres gesagt hat: Ende 2011 werden wir unser Bundeswehrkontingent in Afghanistan erstmals reduzieren können.

So, und wann wird jetzt reduziert?

(Dr. Rainer Stinner (FDP): Haben Sie Ihre Fraktion vertreten?)

Ich sage Ihnen: Ich glaube Ihnen nichts mehr. Ich glaube auch dem Außenminister nichts mehr. Denn ich weiß, dass der Außenminister auch in der Bundesregierung ganz offensichtlich andere Auffassungen vertritt als der Verteidigungsminister. Bisher hat sich der Verteidigungsminister ganz offensichtlich durchgesetzt. Er will aber nicht, dass in diesem Jahr Truppen abgezogen werden,

(Jörg van Essen (FDP): Vertreten Sie die Meinung Ihrer Fraktion, Herr Ströbele?)

jedenfalls nicht mehr als 90 Leute, die sowieso nicht dort sind.

(Elke Hoff (FDP): Lesen Sie doch mal die Zeitung! Das ist doch Mumpitz!)

Sie führen die Öffentlichkeit in die Irre, und immer wieder klingt durch, dass ein Einsatz auch über 2014 hinaus durchaus in Betracht kommt, sofern die Sicherheitssituation dies verlangt. Versuchen Sie also, Glaubwürdigkeit zurückzugewinnen. Dann können wir darüber reden.

Nun zu der Frage, für wen ich rede. Ich rede für mich.

(Zuruf von der FDP: Wie immer! – Zuruf von der SPD: Für die Bürgerinnen und Bürger, dachte ich!)

Ich habe hier für mich eine Rede gehalten, aber ich will Sie noch einmal – das haben Sie auch im Ausschuss gehört, und das können Sie auch von mir hier und heute noch einmal hören – auf unsere Forderung nach der Beendigung der Offensivmaßnahmen und insbesondere dieser gezielten Tötungen hinweisen. Wissen Sie, nach jedem Anschlag auf die Bundeswehr wird immer wieder beklagt – dies wird völlig zu Recht beklagt, sage ich -, wie
hinterlistig und bösartig diese Angriffe sind, bei denen Bundeswehrsoldaten umkommen. Ich frage Sie aber: Ist es etwas anderes, wenn nachts Spezialkommandos ausrücken und Personen, die vorher aufgelistet worden sind, aus ihren Wohnungen holen und kaltblütig töten? Oder ist es etwas anderes, wenn Menschen am Mittags- oder Abendtisch von einer Drohne, die man in der Luft gar nicht wahrnimmt, getötet werden? Ist das nicht auch heimtückisch? Ist das nicht auch hinterlistig?

(Beifall bei der LINKEN)

Das heißt, es findet dort ein schrecklicher Krieg statt, und um das zu beenden – darüber war ich froh -, hat meine Fraktion schon vor zwei Jahren die Einstellung solcher Tötungsaktionen und der Offensivmaßnahmen der NATO und insbesondere der US-Amerikaner gefordert. Es sind aber nicht nur die US-Amerikaner. Vielmehr verfahren auch die Deutschen inzwischen so und helfen den Amerikanern bei solchen Kill-Aktionen, indem sie ihnen Informationen geben und Leute auflisten. Wir sind also mit dabei, und ich glaube, die Fraktion vertritt dazu Auffassungen, die sich meinen – sage ich mal – annähern.

Abschließend dazu, wie wir zu diesem Antrag stehen. Ich werde dem Antrag der Linken nicht zustimmen. Ich werde mich der Stimme enthalten. Wie sich die Fraktion entscheidet, werden Sie erleben.

(Beifall beim BÜNDNIS 90/DIE GRÜNENZuruf von der CDU/CSU: Die Amerikaner sind per se Mörder! Das will er uns damit sagen!)

sagen: „Wir machen weiter so“, sondern wir müssen neue Wege gehen. Für
diese neuen Wege gibt es Möglichkeiten, und es gibt Aussicht auf Erfolg. Es
kann nicht heißen: „Wir führen den Krieg mindestens drei Jahre weiter“,
sondern es muss heißen: Es muss eine Kehrtwendung von dem Einsatz in
Afghanistan hin zur Beendigung des Krieges stattfinden, und zwar sofort. – In
diesem Punkt gebe ich dem Kollegen Gehrcke ausdrücklich recht. Der Krieg
muss beendet werden. Im letzten Jahr sind allein in drei Monaten von den
USA 1 485 sogenannte verdeckte Operationen von Spezialkräften
durchgeführt worden, bei denen 485 Menschen getötet worden sind und
durch die unendlich viel Leid angerichtet worden ist. Das kann nicht sein.
Wenn Sie das hochrechnen, kommen Sie auf über 5 000 solcher Angriffe in
einem Jahr. Wir können nicht erwarten, dass auf der anderen Seite nichts
passiert. Diese Angriffe führen vielmehr zu einer Verschärfung des Krieges.
Sie führen dazu, dass die Taliban jeden Tag stärker werden, dass sich immer
mehr Menschen aus Hass und deshalb, weil sie Vergeltung üben wollen,

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