von Simon Lissner, Mitglied des Kreisvorstandes Limburg-Weilburg, im Mai 2011, überarbeitet und aktualisiert im September 2011
Yaşamak! Bir ağaç gibi tek
ve hür ve bir orman gibi kardeşçesine,
bu hasret bizim!
Leben! Wie ein Baum, einzeln und frei
und brüderlich wie ein Wald,
diese Sehnsucht ist unser!
Nazim Hikmet
Türkei – Zwischen Okzident und Orient
Wenn Gott von ganz oben regiert, entscheidet dessen Temperament, dessen Meinung als letzte Instanz. Leider weiß niemand genau, was er fühlt und denkt. Damit hat die Priesterkaste viel Deutungsmacht, heute sind das Kardinäle, Bischöfe, Imame, aber auch religiöse Politiker oder Publizisten. Die Meinungsbildung in den Religionen passiert zum großen Teil von oben nach unten, zum Beispiel über Dogmen. Demokratisch ist das nicht.
Zudem ist das religiöse Temperament nicht gelassen. Die Religion kommt aus der Ekstase, es geht um große Gefühle, Liebe und Hass, um das Eigene und das andere. Mythen sind nicht belegbar und deshalb nur schlecht versöhnungsfähig, man glaubt sie oder nicht. Oft geht es um scharfe Abgrenzung, mein Gott gegen deinen. Deshalb sind religiös grundierte Konflikte oft besonders erbittert, die Kriege besonders langwierig, zum Beispiel der Dreißigjährige Krieg, der nordirische oder der arabisch-israelische Konflikt.(…) Das Christentum kann Gläubigen viel schenken, Transzendenz, Trost, Ekstase, Seelentiefe. Es kann herrlich sein – als Privatsache. Als solche gehört es im besten Sinne zu Deutschland. (Dirk Kurbjuweit <https://www.spiegel.de/spiegel/print/d-77855793.html>)
Diese Zeilen unter Überschrift „Gott ist nicht Politiker“, so denke ich, sollten wir uns als Demokratinnen und Demokraten, stets in Erinnerung rufen. Und als GRÜNE sollten wir uns dem Vermächtnis des Eingangs zitierten großen Dichters Nazim Hikmet zutiefst verbunden fühlen. Kurbjuweit schreibt diese Zeilen in Deutschland, für Deutsche, aber sie haben auch im europäischen Diskurs ihre Berechtigung. Nach dem Übergang der Macht an die Konservativen in den europäischen Ländern Frankreich, Deutschland, Österreich findet sich ein Trio der Beitrittsgegner zusammen, welches dezidiert die Aufnahme der Türkei in die Europäische Union zu be- und verhindern trachtet. Die Merkel’sche Formel von der „privilegierten Partnerschaft“ hat die Bemühungen der Türkei andererseits, scheinbar zusehends zum Erliegen gebracht. Die Enttäuschung in der Türkei greift um sich.
Der Diskurs um die Aufnahme der Türkei wird immer wieder durch religiöse Debatten aufgeladen, bis hin zu offenen Rassismen, wie sie um das Buch des Sozialdemokraten Sarrazin Eingang fanden. Bemerkenswert daran ist auch, dass von der Türkei als „muslimischer“ Staat gesprochen wird, obwohl selbst ein ausdrücklicher Moslem, als der sich der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan (AKP, konservative „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“) nicht die grundlegende Änderung des Komplexes Laizismus-Kemalismus-Demokratie in Richtung eines islamischen Staates (Staatsreligon) herbei zu führen vermochte. Im Gegenteil ist für die nationalistisch-kemalistische Elite dieser Laizismus auch ein Garant für Westorientierung, Fortschrittlichkeit und Moderne der Gesellschaft. Umgekehrt sieht der religiöse Teil der Gesellschaft in genau dieser Laizismusvariante sein Grundrecht auf Religionsfreiheit verletzt (nach Dr. Ulrike Dufner, Länderbüro Türkei, Heinrich-Böll-Stiftung). In diesem politisch-religiösen Spagat neigt die Türkei nach wie vor zur Trennung von Staat und Religion, strikter noch, wie wir dies in Deutschland, aber auch von anderen Mitgliedern der europäischen Gemeinschaft kennen und wie es die EU fordert. Dies macht sich an Debatten fest, wie wir sie allfällig in „saure Gurken“ Zeiten (meist in den politischen Sommerferien) Deutschlands, vorzugsweise aus Bayern lanciert erleben: Kruzifix- und Kopftuch“streit“.
Betrachten wir eine Auswahl aktueller Schlagzeilen zur Türkei, stellen wir fest, dass es seit langem die immer gleichen Themen sind, die gegen eine Aufnahme der Türkei ins Feld geführt werden. Pro und Contra bewegen sich im Spannungsfeld. So wird die wirtschaftliche Entwicklung der Türkei positiv gesehen und nicht nur der Tourismus weist Zuwachsraten auf. War in den 70igern des vergangenen Jahrhunderts noch vom „kranken Mann am Bosporus“ die Rede, ist die Türkei heute für Investoren industrieller Branchen aller Art ein attraktiver Standort. Die Türkei ist Mitglied der NATO und gilt als „demokratisch, westlicher Brückenkopf“ islamischer Prägung (nicht etwa mit überwiegend islamisch gläubigem Bevölkerungsanteil, wie man etwa von Deutschland von einem „überwiegend christlich gläubigem Bevölkerungsanteil sprechen würde).
Geostrategisch wird die Bedeutung auf die Schnelle zusammen gefasst: „Die globale Bedeutung dieser Region erschließt sich daraus, dass hier ca. 70 Prozent der weltweiten Energieressourcen lagern. Nach dem 11. September 2001 rückten dieser Raum und seine Peripherie unter sicherheitspolitischen Aspekten als Schauplatz des internationalen Terrorismus ins Zentrum der Weltpolitik. (…) Zusammengefasst heißt das, dass die geostrategische Rolle der Türkei durch ihr Einflusspotenzial auf die Nachbarregionen (gemeint ist Nah Ost, Kaukasus und Südosteuropa, sim.) bestimmt wird und ihren Ausdruck findet `in den Bildern (…) als Brücke oder Bindeglied zur nahöstlichen, kaukasischen und zentralasiatischen Welt (…) bzw. der Barriere gegen Gefahren, die aus diesen Regionen drohen könnten`. Realistisch gesehen, kann die Türkei sowohl zur Zuspitzung als auch zur Entschärfung der Konflikte in der Region beitragen.“ (Die geostrategische Rolle der Türkei in Vorderasien, bpb).
Contra für einen Beitritt der Türkei ergibt sich aus der weiterhin ungelösten Zypern-Frage, Unzulänglichkeiten hinsichtlich demokratischer Freiheiten, wie sie sich z.B. in der Forderung Erdoğans manifestieren, etwa der Forderung nach Abriss des armenischen Denkmals des weltbekannten Bildhauers Mehmet Aksoy im Frühjahr 2011, oder die Internet Zensurversuche gegen missliebige Web-Seiten, wie sie die Süddeutsche Zeitung nach dpa zitiert. Immer wieder werden auch die Haftbedingungen, politische Prozesse und Verfolgung kritischer Journalisten in den Fokus gerückt. Als Malus gelten der „türkische Nationalismus“, allgemein „der Islam“ (die Europäer unterziehen sich selten der Mühe, die religiösen Richtungen im Islam zu differenzieren) und die partielle „Rückständigkeit“ des Landes. In der Kritik steht weiterhin die ethnische Politik der Türkei, also die gegen die Kurden, welche die Regierung Erdoğan am liebsten mit dem „Kampf gegen den Terrorismus“ gleich setzen und legitimieren würde und die Leugnung der Verbrechen gegen die Armenier zu Beginn des 20igsten Jahrhunderts. Zwar hatte Erdoğan viel beachtete Ankündigungen hinsichtlich der Lockerung der Unterdrückungsmaßnahmen gemacht, aber seit 2010 scheint der Konflikt wieder zu eskalieren.
Pro und Contra einer Aufnahme der Türkei in die EU hängt unmittelbar an der jeweiligen Prioritätensetzung der gewünschten Veränderungen in der türkischen Politik und Gesellschaft. Die Politik der Beitrittsgegner lässt jedoch wenig Spielraum und sie führt zu einer weiteren, maßgeblichen Entwicklung: In der Türkei wird die Politik der Beitrittsgegner zunehmend resignativ aufgenommen. „Die wollen uns nicht, wir brauchen die (EU) nicht“ …
Im Verbund mit Renationalisierungstendenzen innerhalb der EU, bis hin zur Forderung nach „Wiedereinführung der Grenzkontrollen“ zwischen EU – Staaten, wie von Frankreich gegenüber Italien und vom deutschen Rechtsausleger, dem Innenminister Hans-Peter Friedrich generell gefordert, rückt ein Beitritt für die Türkei weiter in die Ferne. Claudia Roth und Cem Özdemir beklagen zu Recht in ihrer Pressemitteilung vom 12.5.2011 den „bornierten Nationalismus wie im 19. Jahrhundert“.
Recep Tayyip Erdoğan, auf dem Weg wohin, Türkei?
Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan steht wie kaum ein anderer führender Politiker für die Veränderungen in der Türkei. 1970 wurde Erdoğan Vorsitzender der Jugendorganisation MNP (Necmettin Erbakan, Milli Göruş Bewegung). Bereits 1973 wurde die MNP vom Militär verboten. Darauf gründete Erbakan die MSP, die dem Spektrum der religiös-konservativen Rechten zugerechnet wurde. Dieser Partei trat Erdoğan ebenfalls bei, machte aber politische Karriere erst in der Nachfolgepartei RP und später der FP. Gegen den Willen des Führers der „Wohlfahrtspartei“ Erbakan wurde Erdoğan 1994 zum Kandidaten für das Amt des Oberbürgermeisters von Istanbul gekürt und gewann überraschend die Wahl. Die Wohlfahrtspartei wurde 1998 vom türkischen Verfassungsgericht verboten. Ihr wurde Nähe zum Dschihad vorgeworfen und schwer wog auch der Vorwurf, die Partei plane die Einführung der Sharia. Beides sind unvereinbare Ziele, die dem türkisch-staatlichen Grundprinzip des Laizismus entgegen stehen. Noch 1994 sprach sich Erdoğan gegen einen Beitritt zur EU aus. Die EU sei eine Ansammlung von Christen, in der die Türkei nichts zu suchen hätte, und in Ausübung seines Amtes versuchte er, allerdings teilweise erfolglos, religiös-reaktionäre Dogmen durch zu setzen, etwa getrennte Badezonen für Männer und Frauen, Alkoholverbot und getrennte Schulbusse für Jungen und Mädchen.
Das türkische Militär, das sich als Hüterin des Laizismus (zurückgehend auf Mustafa Kemal Atatürk) und der westlich orientierten Reformbewegung, hervorgegangen aus dem Osmanischen Reich, versteht, putschte 1960, 1971 und 1980. 1998 wurde Erdoğan wegen „Aufstachelung zur Feindschaft aufgrund von Religion, Klasse, Rasse, Sekte oder regionalen Unterschieden“ zu einer zehnmonatigen Haft und lebenslangem Politikverbot verurteilt.
Nach seiner Haftentlassung 1999 scheint Erdoğan mit seiner radikalislamischen Vergangenheit gebrochen zu haben. Von seinem politischen Ziehvater Erbakan scheint sich Erdoğan vollständig gelöst zu haben. Als die FP 2001 verboten wurde, sammelte Erdoğan reformbereite Kräfte unter den Religiösen und gründete die AKP. 2002 errang die AKP einen überwältigenden Wahlsieg, Erdoğan konnte aber aufgrund des Politikverbotes das Amt des Ministerpräsidenten nicht besetzen. Das Amt übernahm zunächst sein Stellvertreter Abdullah Gül. Nach einer Verfassungsänderung, die sein Politikverbot aufhob, übernahm Erdoğan das Ministeramt.
Erdoğan so heißt es, habe in seiner Haft erkannt, dass der vormals vertretene radikale Islam keine Zukunft haben werde.
Auslöser für die Inhaftierung und das Politikverbot war seinerzeit ein Zitat das dem Dichter Ziya Gökalp zugeschrieben wird: Die Demokratie ist nur der Zug, auf den wir aufsteigen, bis wir am Ziel sind. Die Moscheen sind unsere Kasernen, die Minarette unsere Bajonette, die Kuppeln unsere Helme und die Gläubigen unsere Soldaten .<https://de.wikipedia.org/wiki/Recep_Tayyip_Erdo%C4%9Fan>
Insbesondere das türkische Militär bleibt misstrauisch. Erdoğan hingegen ist stets bemüht, den Einfluss des Militärs zurück zu drängen und betont, der Generalstab der Armee unterstehe der Befehlsgewalt des Ministerpräsidenten. Dennoch können wir davon ausgehen, dass es eben der Einfluss des kemalistisch-nationalistischen Militärs ist, der Erdoğan in vielerlei Hinsicht zu realpolitisch-pragmatischen Einsichten und Handeln bewegt.
Als Bürgermeister von Istanbul machten seine religiös motivierten Experimente (s.o.) von sich reden, in der Praxis modernisierte er Istanbul jedoch und erwarb sich die Zustimmung der Istanbuler.
Während er als Bürgermeister gegen einen EU Beitritt Stellung bezog, änderte sich seine Auffassung als Ministerpräsident des Landes. Erdoğan betonte außenpolitische Zuverlässigkeit und strebte einen schnellstmöglichen EU-Beitritt an.
„Seither hat das Parlament weitgehende Reformen zur Demokratisierung des Landes verabschiedet. Die Todesstrafe wurde abgeschafft, die Meinungsfreiheit wurde erweitert, der Kampf gegen die Folter verstärkt. Die Lage der Kurden wurde durch die Zulassung kurdischer Sprachkurse und TV-Programme verbessert. Auch betreibt Erdoğan eine Annäherung an Armenien. Er lud die armenische Regierung ein, eine aus türkischen und armenischen Wissenschaftlern bestehende Historikerkommission zur Aufarbeitung des Völkermords an den Armeniern zu gründen, der in der Türkei immer noch bestritten wird. Außenpolitisch verfolgt Erdoğan die weitere Annäherung der Türkei an die EU mit dem Ziel eines baldigen Beitritts, was im deutlichen Gegensatz zu seinen früheren Positionen steht. Unter seiner Führung wurde jedoch auch das Verhältnis der Türkei zu seinen östlichen Nachbarn deutlich verbessert. Die Beziehungen beispielsweise zu Syrien und zum Iran gelten derzeit als die besten seit Jahrzehnten.“ <https://de.wikipedia.org/wiki/Recep_Tayyip_Erdo%C4%9Fan>
Auch wenn sich die Beziehungen zu Israel in jüngerer Vergangenheit verschlechterten, bemühte sich Erdoğan (die Türkei ist Mitglied der NATO) die traditionell guten Beziehungen zu Israel zu pflegen:
Die Türkei pflegt historisch sehr enge Beziehungen zu Israel. Während Ägypten als erstes arabisches Land Israel erst 1978 im Camp David Abkommen anerkannte, ging die Türkei diesen Schritt bereits im Jahr 1949. Erst nachdem die UNO die PLO als legitime Vertretung der Palästinenser anerkannte, erlaubte die Türkei die Eröffnung eines offiziellen Büros in Ankara. Die Türkei war fortan um eine Politik der Äquidistanz zu beiden Seiten bemüht und unterhielt hierbei auch enge militärische Verbindungen mit Israel. Die AKP hegte größere Sympathien für die muslimischen Brüder in Palästina, bemühte sich jedoch insgesamt um eine Aufrechthaltung der bisherigen Außenpolitik in dieser Frage. Allerdings ist auch zu erwähnen, dass Ministerpräsident Erdoğan Israel mehrfach als einen „terroristischen Staat“ bezeichnete. (Politischer Jahresbericht, 2006, HBS).
Nachdem die Beitrittsverhandlungen ins Stocken geraten sind, scheint Erdoğan zusehends die Rolle der künftigen Türkei als „ehrlicher Makler“ zwischen den Interessen des „Westens“ und des „Ostens“ zu sehen. Ausdrücklich bezeichnet er Ahmadinedschad als „Freund“ und beklagt, der Iran werde hinsichtlich seines Atomprogrammes „ungerecht“ behandelt. Die aktuellen Demokratiebewegungen im Mittelmeerraum hingegen, wenden sich nach der enttäuschenden Reaktion des „Westens“, allen voran die EU, dem „Modell Türkei“ zu. Es sollte nicht übersehen werden, dass ein gerüttelt Maß Verantwortung für die jüngere Politik Ankaras gerade auch die EU Verantwortung trägt: Der, wie Claudia Roth und Cem Özdemir kürzlich formulierten, „zunehmend bornierte Nationalismus“ in der EU selbst und die plumpe Abwehr des konservativen Trio Infernale (Deutschland, Frankreich, Österreich), lassen dem selbst unter enormen innenpolitischen Druck stehenden Erdoğan nur wenig Spielraum.
Das Referendum Ende 2010 entschieden Erdoğan und die AKP für sich. Bei 77% Wahlbeteiligung und 58% Zustimmung zur Verfassungsänderung in 27 Punkten wird die von den Militärs nach dem Putsch von 1980 durchgesetzte Verfassung geändert. Beobachter interpretieren:
„Das Ergebnis des Referendums offenbart abermals die tiefe Gespaltenheit der türkischen Gesellschaft. Den Anhängern der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP, die zum Sammelbecken der neuen anatolischen Mittelschicht und der einfachen Leute geworden ist, stehen als erbitterte Gegner die Angehörigen der alten kemalistischen Staatselite gegenüber. Diese fürchten um einen unumkehrbaren Verlust ihrer ehemaligen Vormachtstellung und sehen in jeglichen Reformen der AKP weitere Schritte hin zu einer Islamisierung des Landes.“
<https://www.tagesschau.de/ausland/referendumtuerkei114.html>
Die befürchtete Islamisierung des Landes sei einmal dahin gestellt. Obwohl die AKP über eine komfortable Mehrheit verfügt, sind derartige Anzeichen nicht wirklich erkennbar.
Die türkische Armee
Die Armee der Türkei zählt 514.000 Angehörige (bei ca. 75 Millionen Einwohnern). Ihr standen im Jahr 2010 9,9 Mrd US Dollar zur Verfügung. Der Oberbefehlshaber wird vom Staatspräsidenten ernannt und ist dem Ministerpräsidenten (Erdoğan) verantwortlich. Der aktuelle 27. Oberbefehlshaber seit dem Ende des Osmanischen Reiches ist General Işık Koşaner (im Kriegsfall) und Abdullah Gül (Frieden). International steht die türkische Armee an fünfter Rangfolge, innerhalb der NATO unterhält die Türkei die zweitgrößte Armee nach den USA. Es besteht Wehrpflicht. Die Wehrpflicht beträgt 15 Monate, Reservisten 378.700. Das Militärbudget macht 3% des Bruttonationaleinkommens des Landes aus.
Die Streitkräfte der Türkei verfügen über alle Waffengattungen. Die Türkei ist nicht Atommacht. Die Türkei trat 1952 der NATO bei. 1974 besetzte die Türkei den Nordteil Zyperns. Der Konflikt schwelt ungelöst. Zypern ist seit dem Einmarsch der Türkei geteilt. 2004 wurde Zypern (griechischer „Teil“, Republik Zypern) in die EU aufgenommen. Griechenland ist EU Mitglied und sowohl Griechenland als auch die Türkei sind Mitglieder der NATO. Der Zypernkonflikt ist eine Belastung für den Beitrittsprozess der Türkei.
Am 12. September 1980 führte General Kenan Evren den dritten Militärputsch der türkischen Geschichte an. Kenan Evren begründete den Putsch damit, „zu den Quellen des Kemalismus zurückkehren“ zu wollen. Hintergrund waren Kämpfe zwischen linken und rechten Gruppierungen, die in einen Bürgerkrieg mit 50 bis 70 Toten täglich ausgeartet waren. Später gab das Militär die Macht wieder an eine demokratisch gewählte Regierung ab. Die türkischen Streitkräfte begreifen sich seit Jahrzehnten als Wächter der von dem Offizier Atatürk eingeführten Staatsordnung. 1960, 1971 und 1980 griffen die türkischen Generäle jeweils aktiv in das politische Geschehen ein, erließen eine neue Verfassung und ließen dann über Neuwahlen wieder eine Regierung wählen, ohne sich ein Letztentscheidungsrecht in zentralen Fragen nehmen zu lassen (was sich durch das Referendum jedoch in Teilen geändert haben dürfte, sim.).
<https://de.wikipedia.org/wiki/T%C3%BCrkische_Streitkr%C3%A4fte>
Die Türkei ist in die NATO Kommandostruktur eingebunden und beteiligt sich zum Beispiel an den Embargo-Maßnahmen 2011 gegen Libyen. Dabei duldet die NATO jedoch insbesondere militärische Einsätze in den Kurdengebieten und in der Vergangenheit auch, Übergriffe auf Kurdengebiete auf irakischem Territorium.
Mutmaßungen, genährt auch von Teilen der (kemalistischen) türkischen Presse, die Türkei werde sich vom „Westen“ ab und dem „Osten“ zu wenden, weil die EU den Beitritt blockiere, schienen bisher keine faktische Grundlage zu haben. Auch nach der völkerrechtswidrigen Erstürmung des Gaza-Flottillen-Schiffs „Mavi Marmara“ durch israelische Spezialeinheiten und dem Tod von Zivilisten schien diese Allianz nicht in Gefahr zu geraten. Denn trotz der scharfen Rhetorik hat die türkische Regierung bis zum September 2011 den eigentlich logischen Schritt, also den Abbruch der Beziehungen zu Israel, noch nicht vollzogen. Die militärischen Projekte wurden ebenfalls bis zum Septemeber 2011 nicht auf Eis gelegt. Zwar hat die Erdoğan Regierung die „Überprüfung“ der bestehenden Abkommen angekündigt und bisher drei gemeinsame Militärmanöver abgesagt, aber dennoch dem dezenten Hinweis der Armeeführung folgegeleistet: „Die modernisierten F4 und F5-Jets sowie unsere M60 Panzer benötigen weiterhin Gerätelieferungen aus Israel. Daher ist die militärische Zusammenarbeit unbedingt einzuhalten.“ (Tageszeitung Taraf, vom 17. Juni 2010). Aber auch der in Regierungskreisen einflussreiche Fetullah Gülen meldete sich: „Die Gaza-Flottille hätte Israel um Erlaubnis bitten müssen und nicht gegen die israelische Autorität aufbegehren dürfen.“ Am gleichen Tag beruhigte der Vorsitzende des Türkisch-Israelischen Handelsrats Menashe Carmon die Wirtschaftseliten: „Trotz Besorgnis erregender Entwicklungen geht unser Handel weiter.“
Der Kolumnist Cengiz Candar vermutet: „Entweder wird die Erdoğan-Regierung gehen oder die Netanyahu-Lieberman-Koalition. Wir sind an einen Punkt angelangt, an der beide Regierungen nebeneinander nicht existieren können. Meiner Ansicht nach hat Candar recht. Für die Begehrlichkeiten der Türkei und für die an der Stabilität im Nahen Osten interessierte US-Regierung ist die derzeitige israelische Regierung zu einem Störfaktor geworden. Die Obama-Administration ist aufgrund eigener Schwächen und der innenpolitischen Entwicklung nicht in der Lage, den Druck auf die Netanyahu-Regierung zu erhöhen. So nimmt die Türkei als aufstrebende Regionalmacht gerne diese Rolle an.“ <https://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Tuerkei/cakir3.html>
Dauerkonflikt ist der immer wieder militärisch ausgetragene Konflikt im von der Türkei beanspruchten Teil der Kurdengebiete (das von Kurden bewohnte Gebiet erstreckt sich auf Staatsgrenzen der Türkei, Iran und des Irak). Zwar hat Erdoğan öffentlichkeitswirksam und besonders in Europa beachtet, mehr Rechte für die Kurden versprochen, aber die Realität sieht anders aus.
„Nach der Entscheidung der hohen Wahlkommission vom 18.04.2011, 12 Kandidat/innen des linken Wahlbündnisses und hierbei insbesondere auch 7 kurdische Kandidat/innen aufgrund von Verfahren nach dem Antiterrorgesetz nicht zur Parlamentswahl zuzulassen, kam es zu einer Phase von Aufständen im gesamten nordkurdischen Gebiet aber auch im Westen der Türkei. Die protestierenden Menschen wurden mit massiver Gewalt von Polizei und Militär angegriffen. Bei den Angriffen wurde ein Gymnasiast in Bismil durch Polizeischüsse getötet, Hunderte wurden verletzt. Der Widerstand weitete sich dennoch aus, unter dem Druck der immer heftigeren Proteste war das Gericht gezwungen nach Überprüfung, ihre Entscheidung für 6 der Kandidat/innen der linken, prokurdischen Friedens- und Demokratiepartei BDP zurückzunehmen und diese wieder zur Wahl zuzulassen.“ <https://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Tuerkei/wahlputsch2.html>
Die Türkei und die Kurden
„Nach dem der türkische Staat, trotz aller Beteuerungen der sog. »Öffnungspolitik« die prokurdische Partei DTP verboten, rund 1.500 PolitikerInnen und gewählte BürgermeisterInnen der Nachfolgepartei BDP (Partei des Friedens und der Demokratie) inhaftiert, mehrere Tausend minderjährige Kinder zu hohen Haftstrafen verurteilt und von täglichen Bombardierungen sowie ständigen Militäroperationen gegen die PKK, die den einseitigen Waffenstillstand erklärte, nicht abgelassen hat, hat die Lage in den kurdischen Gebieten eskaliert. Die PKK hat den ‚aktiven Widerstand‘ ausgerufen und ihre Angriffe auf militärische Ziele wieder aufgenommen. Alleine im Juni sind laut Zeitungsberichten mehr als 150 Soldaten und Guerillakämpfer ums Leben gekommen. Die Zustände sind mit denen der Kriegsjahre 1990 – 1993 durchaus zu vergleichen und eine weitere Eskalation könnte die Gewalt auch in die Großstädte im Westen tragen.“ <https://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Tuerkei/cakir3.html>
Seit 2010 scheinen die militärischen Aktionen der türkischen Armee trotz wiederholter Waffenstillstandsangebote der PKK, wieder ausgeweitet zu werden.
Das Siedlungsgebiet der etwa 20 Millionen Kurden liegt hauptsächlich im Osten der Türkei (etwa 7 bis 10 Millionen Kurden), im Nordirak (etwa 3 Millionen) und im Westen Irans (etwa 4 bis 5 Millionen). Einige 100.000 Kurden leben auch in Syrien und in Armenien. Nach der Niederlage des Osmanischen Reiches sah der Friedensvertrag von Sèvres 1920 die Bildung eines kurdischen Staates vor. Die Alliierten versicherten aber 1923 dem neu entstandenen Staat Türkei im Vertrag von Lausanne die Anerkennung seiner Souveränität zu. Damit war die Bildung eines kurdischen Staates hinfällig geworden. Gründe für die Ablehnung der kurdischen Autonomie von Seiten der betroffenen Staaten liegen in der strategisch wichtigen Lage kurdischer Siedlungsgebiete sowie im Ölreichtum ihrer Gebiete.
Die Kurden sind Opfer ihrer geostragischen Lage. Keines der die Teilgebiete beanspruchenden Staaten/Mächte hat ein Interesse an einem autonomen Kurdistan. Saddam Hussein bekämpfte kurdische Autonomiebestrebungen mit Giftgasangriffen gegen die Zivilbevölkerung. Obwohl die Kurden zunächst mit der iranischen Revolution sympathisierten, stieß die kurdische Unterstützung auch im Iran nicht auf „Gegenliebe“.
Kurden in allen Grenzgebieten wurden in unterschiedlicher Intensität verfolgt und unterdrückt.
Die „Partia Karkaren Kurdistan“ PKK ist eine radikale, militante und teilweise terroristische Partei der Kurden in der Türkei. Die Anfänge dieser Bewegung, die die Gründung eines unabhängigen kurdischen Staates als Ziel hat, werden als Ergebnis mehrerer kurdischer, aber auch türkischer Studenten 1974 in Ankara gesehen. Die ersten Aktionen der Bewegung dienten hauptsächlich zum Aufbau engerer Kontakte mit anderen revolutionären Gruppen im Osten der Türkei. Interne Richtungskämpfe und Konflikte konnte Abdullah Öcalan für sich entscheiden. Mehrere Abspaltungen führten zu weiteren kurdischen Untergrundorganisationen, von denen sich allerdings keine gegen die PKK behaupten konnte. Die PKK bezeichnet Kurdistan als Kolonialgebiet der Türken, Iraker und Syrier. Der vorherrschende Kapitalismus habe das Land und seine Rohstoffe auf wenige Häupter verteilt, und die türkische Regierung versuche die kurdische Kultur zu unterdrücken. Zahlreiche Attentate auf Politiker, aber auch Bombenanschläge gegen Passanten und Touristen trugen dazu bei, die östlichen kurdischen Distrikte, welche die Türkei für „sich“ beansprucht, mit eskalierender Militärgewalt zu überziehen. Nach der Verhaftung Öcalans am 15. Februar 1999 in Kenia, wohin sich der Führer der PKK nach einer monatelangen Hetzjagd durch die türkische Regierung geflüchtet hatte, rief der als Terrorist angeklagte Kurdenführer seine Anhänger zum Gewaltverzicht auf.
Die Türkei setzt Militär skrupellos auch gegen die Zivilbevölkerung ein. Seit der Kommunalwahl 2009 wird von zehntausenden türkischer Soldaten berichtet. Dabei wurden auch Leopard2 Panzer im Einsatz beobachtet. Die deutsche Bundesregierung beliefert den NATO Partner Türkei weiterhin mit Waffen. Zwischen 2006 und 2008 wurden 289 Panzer und zahlreiche Schusswaffen an die Türkei geliefert und laut SIPRI beliefen sich die Waffenexporte an die Türkei 2009 auf 10% aller Waffenausfuhren.
Armenien
In den Jahren 1915 – 1917 organisierte das Jungtürkische CUP (Komitee für Einheit und Fortschritt, Comité Union et Progrès), den Völkermord an den Armeniern. Die nationalistische Bewegung (später Kemal Atatürk) war 1908 an die Macht im Osmanischen Reich gekommen. Der Auftakt zu Deportation und Mord wird in gegen die Armenische Intelligenz in Konstantinopel gerichteten Verhaftungsaktionen des Innenministers Talât Bey im April und Juni 1915 gesehen. Im Mai 1915 wurde ein Deportationsgesetz gegen die Armenier erlassen, das u.a. vorsah, „Opposition oder bewaffneten Widerstand gegen Befehle der Regierung, gegen die Landesverteidigung oder gegen die öffentliche Ordnung unverzüglich mit militärischer Gewalt in härtester Form ‚zur Raison zu bringen‘ und Übertretungen und Widerstand von „Grund auf zu vernichten“.“
<https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkermord_an_den_Armeniern>
Armenische Soldaten der Osmanischen Armee wurden entwaffnet, in Lager inhaftiert und ganze armenische Bataillone anschließend erschossen. Das Osmanische Reich war an der Seite der Achsenmächte in den 1. Weltkrieg eingetreten.
Besondere Schuld luden die Deutschen Verbündeten auf sich. Im Wissen um die Deportationen, die nach unterschiedlichen Angaben zwischen 300.000 und mehr als einer Millionen Armenier (bei einer geschätzten Gesamtbevölkerung von 2,1 Mio. Menschen) das Leben kostete, unternahmen sie nichts.
„Im Juni 1915 schrieb der deutsche Botschafter Hans von Wangenheim aus Konstantinopel an den deutschen Reichskanzler Theobald von Bethmann Hollweg: „Dass die Verbannung der Armenier nicht allein durch militärische Rücksichten motiviert ist, liegt zutage. Der Minister des Innern Talaat Bey hat sich hierüber kürzlich gegenüber dem zur Zeit bei der Kaiserlichen Botschaft beschäftigten Dr. Mordtmann ohne Rückhalt dahin ausgesprochen ‚dass die Pforte den Weltkrieg dazu benutzen wollte, um mit ihren inneren Feinden – den einheimischen Christen – gründlich aufzuräumen, ohne dabei durch die diplomatische Intervention des Auslandes gestört zu werden; das sei auch im Interesse der mit der Türkei verbündeten Deutschen, da die Türkei auf diese Weise gestärkt würde.‘ Ebenfalls im Juni berichtete der Generalkonsul in Konstantinopel Mordtmann: ‚Das lässt sich nicht mehr durch militärische Rücksichten rechtfertigen; es handelt sich vielmehr, wie mir Talaat Bej vor einigen Wochen sagte, darum die Armenier zu vernichten.'“
<https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkermord_an_den_Armeniern>
„Allianzen des (Ver-)Schweigens waren hier wie dort der Aufarbeitung des Holocaust nicht dienlich. Allerdings: Ohne Armin T. Wegner und einige wenige aufrechte Mitstreiter, ohne die eigenhändigen Fotodokumente des Dichters von den Todeslagern der ausgetriebenen Armenier, ohne seinen internationalen Protest wäre die Mauer des Schweigens noch höher, die Leugnung des Verbrechens noch dreister. Es war dieses Schweigen, welches – nachgerade als Modell scheinbar strafloser Verdrängung – etwa die Nazis in ihren eigenen mörderischen Plänen bestärkte. Hitler bezog sich ausdrücklich darauf, als er äußerte: „Wer redet noch von den Armeniern?“ <https://www.armin-t-wegner.de/zivilcourage.htm> Armin T. Wegner dokumentierte als Dichter und Fotograf die Verbrechen an den Armeniern).
Die Europäische Union hat die Anerkennung des Völkermords an den Armeniern durch die Türkei zur Beitrittsvoraussetzung gemacht. Erdoğan hat der aus der ehemaligen Sowjetunion hervorgegangenen Republik Armenien (1991) angeboten, die Ereignisse durch eine unabhängige Historikerkommission untersuchen zu lassen. Die Armenische Seite lehnt dies ab, weil eine Zustimmung ihrerseits bereits Zweifel an dem Völkermord Berechtigung einräumen würde.
Die Türkei räumt, praktisch seit Kemal Atatürk, zwar ein, dass es zu Verfolgung und Morden an Armeniern gekommen sei, aber sie vertritt, diese seien unmittelbare Kriegsfolgen gewesen und kriegsbedingten sicherheitsrelevanten Maßnahmen geschuldet, jedoch nicht mit dem Ziel eines Genozid geschehen. Innerhalb der Türkei spricht man von „angeblichem Völkermord“ und verweist auf „Illoyalität“ der armenischen Bevölkerung, Krieg und dessen Folgen wie Hunger und Seuchen, Überfälle von Banden sowie bürgerkriegsähnliche Zustände während des Krieges und verweist darauf, dass auch ca. 570.000 Türken ihr Leben ließen.
Der Unterausschuss für die Verhütung von Diskriminierung und den Schutz von Minderheiten der UN-Menschenrechtskommission erwähnte die Ereignisse am 29. August 1985 in einem Bericht über Völkermordverbrechen als Genozid. Durch die Annahme des Berichtes wurde der Völkermord an den Armeniern von diesem Unterausschuss der UNO anerkannt. Das Europäische Parlament hat mit den Beschlüssen vom 18. Juni 1987 und 15. November 2001 die Anerkennung des Völkermordes durch den heutigen türkischen Staat zu einer Voraussetzung des EU-Beitritts der Türkei erklärt und am 28. Februar 2002 in einer weiteren Beschlussfassung die Türkei zur Einhaltung dieser Vorgabe gemahnt. <https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkermord_an_den_Armeniern>
Der türkischen „Lehrmeinung“ folgt die überwältigende Mehrheit der Menschen in der Türkei. Charakteristisch für den Umgang mit der eigenen Geschichte ist ein aktueller Vorfall:
„Der türkische Ministerpräsident Tayyib Erdoğan nannte das Mahnmal „monströs“ und ordnete seinen Abriss an. Das war Ende letzten Jahres bei einem Besuch des Politikers in Kars, einer Stadt im Nordosten der Türkei. Dort ragt das steinerne „Denkmal der Menschlichkeit“ weithin sichtbar in den Himmel. Trotz juristischer Interventionen des türkischen Bildhauers Mehmet Aksoy, der das Kunstwerk 2006 geschaffen hatte, rücken (dem Mahnmal, sim.) jetzt Bagger zu Leibe.“ <https://www.welt.de/kultur/article13235492/Denkmal-fuer-die-toten-Armenier-wird-abgerissen.html>
Die Bundesregierung fällt mit ihrer Antwort hinter die Erkenntnisse der Kaiserlichen Diplomaten und Militärs (Zeitgenossen) aber auch hinter die Bewertung der EU und der Menschenrechtskommission mit ihrer Antwort zurück.
„In einer kleinen Anfrage vom 10. Februar 2010 wurde die Bundesregierung von der Fraktion Die Linke um eine klare Stellungnahme gebeten, ob die Bundesregierung die Auffassung vertrete, dass es sich bei den Massakern an den Armeniern 1915/16 um einen Völkermord im Sinne der UN-Konvention von 1948 handele. Die deutsche Bundesregierung antwortete am 25. Februar 2010:
„Die Bundesregierung begrüßt alle Initiativen, die der weiteren Aufarbeitung der geschichtlichen Ereignisse von 1915/16 dienen. Eine Bewertung der Ergebnisse dieser Forschungen sollte Wissenschaftlerinnen/Wissenschaftlern vorbehalten bleiben. Dabei ist die Bundesregierung der Auffassung, dass die Aufarbeitung der tragischen Ereignisse von 1915/16 in erster Linie Sache der beiden betroffenen Länder Türkei und Armenien ist. Vor diesem Hintergrund zollt die Bundesregierung sowohl der türkischen als auch der armenischen Seite Respekt für die mutigen Schritte, die sie bereits zur Normalisierung ihrer bilateralen Beziehungen unternommen haben. Sie ermutigt beide Seiten in ihren Gesprächen regelmäßig, den laufenden Annäherungsprozess, der auch die Bildung einer Historikerkommission einschließt, beharrlich fortzusetzen.
<https://de.wikipedia.org/wiki/V%C3%B6lkermord_an_den_Armeniern>
Außenpolitik
Nachdem die EU den Beitritt seit Jahrzehnten verwehrt und sich ein Trio Infernale zusammen gefunden hat, das in Ankara den kaum von der Hand zu weisenden Eindruck hinterlässt, dass diese Hinhaltetaktik nach deren Willen auch die nächsten 40 Jahre so weiter gehen kann, entwickelt sich die türkische Außenpolitik im Windschatten globaler Ereignisse und wachsender ökonomischer Stärke. Der Wunsch nach Beitritt tritt in dem Maße außenpolitisch zurück, wie es der Machtzuwachs zulässt, eigene Wege zu gehen.
Verwundert nahm man wahr, dass das türkische Atomprogramm (wie üblich zur „friedlichen Nutzung“), bis Anfang des 21. Jahrhunderts kaum voran kam und meist die Planungsphase nicht überstand. Nun kommt seit ca. 2009 „Zug“ in die Sache. Aufmerksame Beobachter/innen haben bemerkt, dass sich Erdoğan unmissverständlich äußerte, auch nach Fukushima werde man an den Plänen für das türkische Atomprogramm fest halten. Nie und nirgends hört man viel über mögliche Pläne zu einem militärischen Atomprogramm. Das Ankara keinerlei Gedanken in dieser Richtung hegt, ist aus mehrerlei Gründen kaum zu anzunehmen.
Da wäre die Bedrohungslage Iran. Aber auch Regionalmächte wie Indien und Pakistan und andere Mittelmächte, die sich den besonderen „Respekt“ eben durch den Besitz von Atomwaffen „verschafft“ haben, dürften Begehrlichkeiten geweckt haben. Dass der Aufbau einer „zivilen“ Nuklearindustrie unabdingbare Voraussetzung für den Aufbau einer Atomwaffentechnologie stets das „Einfallstor“ (Proliferation) war, ist ebenfalls unbestreitbar. Tatsächlich wäre der Besitz dieser Waffe für die sich abzeichnende machtpolitische Entwicklung für die Türkei in Eurasien sozusagen das „Machtpolitische i-Tüpfelchen“, an dem keine Macht, weder die EU, noch die USA, vorbei käme.
Und siehe da. Vom Korrespondenten Jan Keetmann findet man, sofern man etwas sucht, unter der Überschrift „Atomprogramm als Vorstufe zur türkischen Atombombe“ die ersten, frühen Vermutungen. „Als Grund für den Bau von AKW wird der stark steigende Strombedarf genannt: 2010 bis 2020 soll der sich verdoppeln. Stromausfälle sind in der Türkei schon jetzt eine Dauerplage. Dennoch taucht die Frage auf, ob das plötzliche ‚Ja‘ zum Atom nicht eine Reaktion auf den derzeit tobenden Streit um das Atomprogramm des Nachbarn Iran ist. Will sich die Türkei auf lange Sicht eine militärische atomare Option schaffen? Presseberichte über die Verwendung von eigenem Uran und Thorium und die Aufbereitung verbrauchter Brennstäbe deuten an, dass ein ganzer Brennstoffzyklus errichtet werden soll; er schlösse die Urananreicherung und die Gewinnung von Plutonium aus verbrauchten Brennstäben ein. So ließe sich Material für Atomwaffen gewinnen. Die Armee wird bei dem Projekt sicher mitreden: im Nationalen Sicherheitsrat, dem die Regierung ihre Pläne vorlegt, sind auch die Oberbefehlshaber des Militärs. Gegen die Aussicht auf Atomkraftwerke regen sich indes erste Proteste: Oya Koca von der Bürgerinitiative gegen ein AKW am potenziellen Standort Sinope an der Schwarzmeerküste klagt, dass die Vorarbeiten zur Auswahl der Standorte unter strikter Geheimhaltung durchgeführt worden seien. Das wäre gar so weit gegangen, dass man Nummernschilder an Fahrzeugen der TAEK ausgewechselt habe.“ <https://www.politik.de/forum/mittelmeer/130826-tuerkei.html>
Die konservative Bodentruppe „Gottes“ der EU dürfte ein gerüttelt Maß dazu beigetragen haben, solche Überlegungen in der Türkei zu beflügeln. Solange für die Türkei eine Beitrittsperspektive bestand und die Türkei der NATO angehört, dürften militärische Überlegungen eine untergeordnete Bedeutung gehabt haben, aber die Zeiten ändern sich. Das Interesse wächst.
Unlängst veröffentlichte Wikileaks (November 2010) US-Depeschen, in denen der türkische Premier mit Unfreundlichkeiten bedacht wurde, etwa „als ‚ignoranter Islamist mit korrupter Regierung‘, aber man ist sich in Washington durchaus im Klaren, dass man an dem ‚Volkstribun aus Anatolien‘ nicht (mehr) vorbei kommt. https://www.tagesschau.de/ausland/wikileaks226.html>
Eigentlich, so sollte man meinen, müsste diese Erkenntnis auch in der EU angekommen sein.
Beide Seiten sind indes stets bemüht, gelegentliche „Rüpeleien“ klein zu reden, aber sie geben einen Hinweis darauf, dass Ankara sich nicht nur einfach stark „fühlt“, sondern schlicht stärker geworden ist, und den politischen wie wirtschaftlichen Preis für diverse „Dienste“ erhöht und weiter erhöhen wird.
Im Jahr 2003 verbot der NATO Partner Türkei den USA die Überflugrechte für ihre Kampfeinsätze gegen den Irak. Ankara verbesserte die Beziehungen zu den Staaten des Nahen Osten kontinuierlich, Erdoğan bezeichnet Ahmadinedschad als „Freund“ und die Türkei ist vermutlich zur Zeit unter den NATO Mitgliedern, das einzige Land, welches auf den Iran überhaupt noch im westlichen Sinne positiven Einfluss nehmen kann.
Zypern, Wiedervereinigung in Sicht?
Im Januar 2011 äußerte sich der Sonderbeauftragte der UNO für Zypern, Alexander Downer in einem Interview im „Neuen Deutschland“ zuversichtlich hinsichtlich der Entwicklung in Zypern. Der Durchbruch ist bis heute nicht gelungen.
1878 verpachteten die Türken die Insel an England. Im Zuge des 1. Weltkrieges annektierte Großbritannien die Insel. Die Briten schlugen die Selbstverwaltung für Zypern vor. 1959 wurde der erste Präsident Erzbischof Makarios gewählt (griechisch) und Vizepräsident wurde der türkische Zypriot Fazil Küzük. 1960 wurde Zypern in die Unabhängigkeit entlassen. Während die griechischen Zyprioten an dem eigenständigen Staat festhalten wollten, forderten die türkischen Zyprioten einen eigenen Staat in Anlehnung an die Türkei. Ausgelöst durch den Versuch einer Verfassungsänderung, die den türkischen Zyprioten ein Vetorecht genommen hätte, kam es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Seitdem ist die Insel geteilt und eine UNO-Truppe sichert die Demarkationslinie … Auch das ist Europa. 1974 kam es zur türkischen Invasion. Der nördliche (türkische) Teil wurde besetzt, 200.000 griechische Zyprioten wurden vertrieben. Die Türkei berief sich auf ihr Mandat als „Schutzmacht“ (UK, Griechenland, Türkei hatten dies im Zusammenhang mit der Entlassung in die Selbstverwaltung/Unabhängigkeit ausgehandelt). <https://krisen-und-konflikte.de/zypern/>
Hintergrund für diese Entwicklung, die in der zitierten Geschichtsauffassung zu kurz kommt, ist im von der NATO und der CIA unterstützten Militärputsch rechtsextremer Offiziere in Athen zu sehen. Anhänger der Athener Junta stürzten 1974 den Präsidenten Erzbischof Makarios und setzten den mehrfachen Mörder, Faschisten und bekennenden Türkenhasser Nicos Sampson als Präsident der gesamten Insel ein. Unmittelbar organsierte die Junta brutale Angriffe gegen Siedlungen türkischer Zyprioten. Obwohl NATO und Truppen des United Kingdom mit mehreren tausend Soldaten Stützpunkte unterhielten griffen weder sie noch die UNO zum Schutz der türkischen Zyprioten ein. Weit unterlegen gegen die türkische Armee, brach das Unternehmen der Putschisten in sich zusammen. In der Folge verloren zehntausende griechische Zyprioten auf „türkischer“ Seite alles (bis dahin hatte es keine ethnischen „Grenzen“ auf der Insel gegeben).
Die ethnischen „Grenzziehungen“ in Folge des 1974 Putsches und der Invasion durch die Türkei dürften einer der zentralen Hinderungsgründe für eine Konfliktlösung sein. Die gegenseitigen Vertreibungen und daraus resultierende soziale, wirtschaftliche und politische Folgen scheinen weiterhin nur schwer zu überwinden. Die Oberhand halten in den beiden Teilrepubliken die Hardliner.
„Die Hoffnung trog, alle Verhandlungen endeten in Sackgassen. In dieser Situation entschloss man sich, den gordischen Knoten auf sehr einseitige Weise zu zerschlagen: Im Dezember 1999 verkündeten die EU-Regierungschefs, dass eine Überwindung der Spaltung den Beitritt Zyperns zwar erleichtern würde, dies aber keine Bedingung für die Aufnahme sei. Im Dezember 2002 gab die EU ihre Entscheidung bekannt, die Republik Zypern unter allen Umständen am 1. Mai 2004 aufzunehmen.“ <https://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Zypern/mellenthin.html>
Nun ist der Konflikt integraler Bestandteil der EU.
Inwiefern aus türkischer Sicht wirtschaftliche Interessen tatsächlich eine Rolle spielen, wie gelegentlich gemutmaßt wird, bleibt abzuwarten. Unter dem Mittelmeer und im Festlandsockel werden erhebliche Bodenschätze vermutet. Das Hoheitsgebiet der Türkei erweitert sich durch die „türkische Föderation Nordzypern“ beträchtlich.
Die Beziehungen zu Israel verschlechtern sich
Wie bereits angedeutet, waren die Beziehungen der Türkei zu Israel kontinuierlich und über die Jahrzehnte verbindlich und freundlich. Zunächst verschlechterten sich die Beziehung nach dem israelischen Angriff auf die humanitäre Hilfsflotte in den Gaza. Während Israel die Ankündigung der von der Türkei aus ausschiffenden Schiffe mit Hilfslieferung als „Provokation“ interpretiere, von Beginn an martialisch warnte und davon sprach, „Terroristen“ und „türkische Islamisten“ machten sich auf den Weg die Blockade des Gaza gewaltsam zu brechen, betonte Ankara, die von Freiwilligen aus aller Welt gecharterten Boote enthielten ausschließlich Hilfslieferungen und kämen in humanitärer Absicht.
Lassen wir einmal dahingestellt, was an den israelischen Unterstellungen gegen die Organisatoren dran war, hat die gewaltsame, militärische Erstürmung der Schiffe mit Todesfolge unter den Freiwilligen, kaum erwarten lassen, dass Ankara dieses Vorgehen billigt oder gar unterstützen würde. Deshalb war man auch allgemein überrascht, dass Ankara zwar wortgewaltig aber zunächst Folgenlos für die Beziehungen der beiden Länder reagierte. Welche Motive man aus israelischer Sicht auf Ankara auch unterstellen mag, konnte man ernsthaft damit rechnen, dass es bei verbalen Protestnoten bleiben würde? Wenn dem so war, hat sich die rechte Regierung Netanyahu mindestens einmal mehr fatal und gefährlich verspekuliert. Gut ein Jahr nach diesem dramatischen Vorfall, also im September 2011 hat Erdoğan drastische Konsequenzen verkündet, nachdem sich Israel weigerte, den Übergriff als solchen anzuerkennen und für die Folgen einzustehen. Die Türkei wies den israelischen Botschafter aus und verkündete das Ende der militärischen und wirtschaftlichen Zusammenarbeit (gemeinsame Manöver, Handelsbeziehungen, Waffen etc.).
Die „FAZ“ („Dahinter steckt immer ein Kluger Kopf“ …) interpretiert am 11.9.2011:
„Die Verschlechterung der türkisch- israelischen Beziehungen ist eine Folge der Demokratisierung der Türkei. Deren vormals enge Bindung an Israel war ein Projekt der Eliten in Ankara, die auf die Wähler wenig Rücksicht nehmen mussten. Ein türkisches Alleinstellungsmerkmal war das nicht. Weitsichtige Außenpolitik benötigt einen gewissen Abstand zur innenpolitischen Willensbildung ihres Landes, der ihr jedoch immer seltener gewährt wird. Auch in der Außenpolitik der Türkei bilden sich deutlicher als je zuvor die Ansichten einer Mehrheit der Wähler ab – und dieser Mehrheit steht der Sinn nun einmal nicht nach engen Beziehungen zu Israel. In dem Maße, wie die im Islam verwurzelte und anhaltend populäre Regierungspartei des türkischen Ministerpräsidenten Erdogan in den vergangenen Jahren den Einfluss des Militärs sowie der alten kemalistischen Elite zurückgedrängt hat, bröckelte daher auch die vormalige Allianz zwischen der Türkei und Israel. Erdogan fand immer stärker an der Rolle eines Lehrers der sich im Umbruch befindenden arabischen Welt Gefallen. Diese Entwicklung hält Ankara offenbar nicht nur politisch, sondern auch wirtschaftlich für lohnend. Das türkische Militär wird neue Partner in der Rüstungsindustrie finden, der zivile Warenaustausch mit Israel und die Zahl israelischer Touristen in der Türkei sind dagegen zu vernachlässigende Größen. Zumal dann, wenn die Konsumenten in den wachsenden arabischen Märkten umso bereitwilliger zu Produkten „Made in Turkey“ greifen, je schärfer der türkisch-israelische Antagonismus ausfällt.“ https://www.faz.net/artikel/C30089/tuerkische-israelische-beziehungen-der-drohende-erdogan-30684838.html
Diese Einschätzung ist hinsichtlich der „Soft-Skills“ annehmbar, jedoch erkennt sie die „Hard-Skills“ keineswegs. Ich erlaubte mir die FAZ zu zitieren, weil sie hinsichtlich der Türkei durchaus für den „Mainstream“ der politischen Klasse Deutschlands sprechen dürfte. Die grundlegende Fehleinschätzung besteht in der Annahme des ersten Abschnittes. Kemalismus ist in der Türkei eben kein „Anliegen“ der türkischen „Eliten“, die Haltung zu Israel in diesem Zusammenhang ist tief anerkannter Bestandteil der türkischen Westbindung. Erdoğans AKP hat, um daran zu erinnern, fulminante Wahlsiege eingefahren, auf die so mancher EU-Staatsmann in feuchten Träumen gerade noch hoffen mag. Islamische Hardliner liegen deutlich zurück. Den Bruch mit Israel auf innenpolitische Konzessionen und außenpolitische Neuorientierung (Iran) zurückzuführen ist eher sträflich. Das „Modell Türkei“ ist es, welches den in Frage kommenden Raum „illuminiert“, nicht das Irans und nicht das islam-antisemitischer Strömungen. Darin besteht eine verbleibende Chance, die keinesfalls unterschätzt werden sollte.
Weshalb also nun, ein Jahr nach Gaza, der schon viel unmittelbarer, früher, zu erwartende Bruch?
Zum einen dürfte die Einschätzung des Kolumnisten Cengiz Candar (s.S.6) zutreffen. In Erweiterung dieser Einschätzung könnte die Entwicklung aber auch bedeuten, dass es der AKP, mit dem Referendumserfolg und damit einhergehender Reduzierung des Einflusses der Militärs, nach nun einem Jahr gelungen ist, das türkische Militär in ihre Agenda (Türkei als Worldwide Big Player) einzubinden. Damit käme es zu einer entschiedenen Veränderung, einer Melange von Kemalismus und „Erdoğanismus“, der bekanntlich den radikalen Islamismus durchaus glaubwürdig, für einen zum Scheitern verurteilten Irrweg hält, dem er selbst Anfang des 21. Jahrhunderts abschwor. Die staatsgefährdende Isolierung Israels durch die Netanyahu – Administration steuert einem neuen Höhepunkt zu.
Wirtschaft und Soziales
Die Regierung Erdoğan (AKP) verfolgt einen Kurs der radikalen wirtschaftlichen Modernisierung. Darunter versteht sie, den Aufbau einer „Marktwirtschaft“ der sich an den Vorgaben der EU und des IWF orientiert oder in anderen Worten einen „neoliberalen Kapitalismus“. Während der Westteil der Türkei im kapitalistischen Sinne prosperiert, fällt der Ostteil, allen anzuerkennenden Bemühungen zum Trotz, weiter wirtschaftlich ab.
„Tausende kleiner und mittelständischer Unternehmen (KMU) kämpfen in Zeiten zunehmender Globalisierung und des angestrebten EU-Beitritts um ihr wirtschaftliches Überleben. Besonders im Osten des Landes sind Branchen- und Unternehmerverbände nur bedingt in der Lage, unternehmensorientierte Dienstleistungen für die KMU zu erbringen. Die Unternehmen sind meist nur auf die Nachfrage regionaler Märkte ausgerichtet oder arbeiten als Subunternehmer für größere Unternehmen in der Westtürkei. Ihr Zugang zu den Kreditmärkten ist beschränkt, Exportmöglichkeiten werden nicht ausgeschöpft und die zunehmende Zahl von Importen sowie die westtürkische Konkurrenz erschweren eine wirtschaftliche Entwicklung der Region. Die Region ist nicht wettbewerbsfähig.“ <https://www.gtz.de/de/weltweit/europa-kaukasus-zentralasien/tuerkei/13077.htm>
Umweltaspekte spielen für die Regierung Erdoğan bei der industriellen Entwicklung keine Rolle. Gigantische Staudammprojekte, Atomkraftwerke in Erdbebengebieten werden geplant und unter Beteiligung internationaler Konsortien umgesetzt. Die Regierung hat sich zum Ziel gesetzt, bis zum Jahre 2023 zu den 10 größten Volkswirtschaften zu gehören.
Einige Beispiele: Zwar ist der Tourismus noch einer der bedeutendsten Wirtschaftszweige der Türkei (außerdem Automobil, Textil), aber die rasante Entwicklung in wirtschaftsstrategischen Zweigen ist unübersehbar.
Die Wirtschaft der Türkei zeichnet sich darüber hinaus durch eine zunehmend wichtigere Rolle im internationalen Energiehandel aus. Diverse Pipelines von Zentralasien nach Europa führen durch die Türkei und haben sie als Transitland zu einem entscheidenden Akteur im globalen Energiemarkt gemacht. Besonders für die Zukunft wird dieser Sektor für die türkische Wirtschaft von großer Bedeutung sein. <https://www.cap-lmu.de/themen/tuerkei/wirtschaft/entwicklung.php>
Mit der Marke von 11,7 Prozent blieb die Wachstumsrate zwar unter dem von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan angekündigten Rekord von 12 Prozent. Doch unter den G20-Ländern hat nur China mit 11,9 Prozent im ersten Quartal ein stärkeres Wachstum aufzuweisen als die Türkei, in der OECD liegen die Türken mit ihrem Wachstum an der Spitze. Die türkischen Märkte hatten mit einer Rate zwischen 11,0 und 11,5 Prozent gerechnet. <https://www.tagesspiegel.de/wirtschaft/tuerkische-wirtschaft-boomt/1872328.html>
Bis 2014 dürfte die Türkei nach Polen der am schnellsten wachsende IT-Markt Europas sein, so eine Analyse des Business Monitor International. Knupp weiter: „Die offizielle Zielmarke zum 100-jährigen Jubiläum der Türkischen Republik 2023 ist ein Marktvolumen von 160 Mrd. US$ und ein Anstieg der Zahl der Beschäftigten im IKT-Sektor von derzeit rund 100.000 auf eine Million“. <https://www.mittelstandsblog.de/2011/03/cebit-2011-ist-die-turkei-auf-dem-weg-zur-it-macht/>
Die demografische Entwicklung der Türkei:
Schon allein die Zahl der Einwohner macht das Land zum Aspiranten für eine Großmacht. Würde die Türkei heute Mitglied der EU, müsste sie gemessen an der Bevölkerung die zweitgrößte Zahl der Abgeordneten im EU-Parlament stellen. Vor allem ist die demografische Struktur gesünder als die der alternden Europa-Staaten: 26 Prozent der Türken sind jünger als 15 Jahre, nur sechs Prozent älter als 65 Jahre. In Deutschland beträgt der Anteil der Über-65-Jährigen ein Fünftel. <https://www.politik.de/forum/wirtschaft/225401-die.html>
„Die Türkei unterhält intensive Beziehungen zu diversen Schwellenländern, die den wirtschaftlichen Erfolg begründen helfen. Insbesondere in Russland hat die Türkei einen wichtigen Handelspartner.
Aktuell plagen die Wirtschaft jedoch andere Sorgen als die Frage, ob das Land nun in die EU aufgenommen werden wird oder nicht. Der Verband der Exporteure beklagte sich dieser Tage bitterlich über den hohen Wechselkurswert der einheimischen Währung, der Lira, die seit 2009 nicht nur gegenüber dem schwächelnden Euro, sondern auch dem US-Dollar zugelegt hat. Dadurch verteuern sich automatisch türkische Waren im Ausland. Im Juni seien deshalb nur Exporte im Umfang von 9,17 Milliarden US-Dollar möglich gewesen, gegenüber einem Volumen von zehn Milliarden US-Dollar, das bei den alten Kursen möglich gewesen wäre.
Davon abgesehen müssen türkische Unternehmen auch noch mit dem Amtsschimmel kämpfen, wenn sie mit dem Ausland Handel treiben wollen. Die EU-Staaten verlangen von türkischen Bürgern noch immer Visa, während ihre eigenen Bürger längst visumfrei in die Türkei einreisen können. Hiesige Geschäftsleute klagen immer wieder über aufwendige und langwierige Prozeduren, wenn sie Partner oder potentielle Kunden in der EU besuchen wollen. Besonders die deutschen Konsulate scheinen sich oft sehr unkooperativ zu verhalten.“ <https://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Tuerkei/wachstum.html> nach Junge Welt, 9.10.2010
„Ökonomisch ist die Türkei schon jetzt alles andere als ein Zwerg. Mit einer jährlichen Wirtschaftsleistung von 617 Mrd. Dollar rangiert das Land zwar noch ein gutes Stück hinter den Niederlanden mit 792 Mrd. Dollar, doch schon vor dem Frühindustrieland Belgien, das es auf ein Bruttoinlandsprodukt (BIP) von 469 Mrd. Dollar bringt. Deutschland stellt mit einer Wirtschaftskraft von 3347 Mrd. Dollar die mit Abstand größte Ökonomie in der Alten Welt, die Türkei bringt es bereits jetzt auf Position sieben.“ <https://www.politik.de/forum/wirtschaft/225401-die.html>
Anzumerken bleibt, dass Deutschland der bedeutendste Handelspartner der Türkei ist (Ränge 1 und 2 hinsichtlich Export und Import).
Soziale Verwerfungen bleiben nicht aus. Der von der GTZ „abgeschriebene“ Osten (der deshalb mit Projekten der Wirtschaftshilfe unterstützt wird), leidet unter Abwanderung der Menschen (Folge eines horrenden Vermögensgefälles), infrastrukturelle Probleme, etwa eine unzureichende Versorgung mit Trinkwasser, mangelhafte medizinische Versorgung etc., sind nur einige wenige Beispiele für das fragile soziale Gefüge. Die gesellschaftlichen Folgen sind Deklassierung und fortschreitende Verarmung.
„Diese Erfolgszahlen können nicht darüber hinwegtäuschen, dass sektorale und regionale Gegensätze fortbestehen. Sektoral haben vor allem die Industrie (Fahrzeugbau, Fahrzeugteile, Elektrogeräte, Textilien, Elektronik) und die Tourismusbranche profitiert. Die Industrie erwirtschaftet mittlerweile rund 25 Prozent des BIP, der Dienstleistungssektor rund 60 Prozent und die noch weitgehend vor Importen geschützte Landwirtschaft trägt etwa 10 Prozent zum BIP bei. Gerade die Landwirtschaft wurde von dem Strukturwandel bisher nur graduell erfasst. Sie beschäftigt noch immer rund 40 Prozent der Erwerbstätigen.
Ungeachtet des respektablen Wirtschaftswachstums fiel die offizielle Arbeitslosenquote nicht unter zehn Prozent. Seit 1980 hat die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter um mehr als 23 Millionen zugenommen; in dieser Zeit sind aber nur 6 Millionen neue Arbeitsplätze entstanden. Entsprechend groß ist das Gewicht des informellen Sektors. Schätzungen zufolge soll dieser beachtliche 55 Prozent des BIP ausmachen.
Die Auswirkungen der Finanz- und Wirtschaftskrise spiegeln sich seit Mitte 2008 in einer deutlichen Abschwächung des Wirtschaftswachstums wider. So betrug das BIP-Wachstum im Jahr 2008 aufgrund des schlechten vierten Quartals (-6,2 Prozent) nur noch 0,9 Prozent. 2009 verzeichnete die türkische Wirtschaft eine deutliche Rezession von 5,6 Prozent des BIP. Aufgrund einer adäquaten Antikrisenpolitik und einem beachtlich stabilen Finanzsektor konnte die Türkei aber bereits Ende 2009 auf den Wachstumspfad zurückkehren. So wird die türkische Volkswirtschaft 2010 wieder um 3,6 Prozent zulegen. Begleitet wurde dieser Rückgang von einem deutlichen Anstieg der ohnehin hohen Arbeitslosenquote auf 14,2 Prozent. Es wird erwartet, dass die Arbeitslosenzahlen 2010 stagnieren werden. Die öffentlichen Finanzen gerieten im Jahr 2009 im Zuge der Weltwirtschaftskrise vor allem aufgrund gesunkener Steuereinnahmen unter Druck, sodass das Haushaltsdefizit auf 5,6 Prozent des BIP anwuchs. Auch hier zeichnet sich in den kommenden Jahren nur eine leichte Erholung ab.“ <https://www.kfw-entwicklungsbank.de/DE_Home/Laender_Programme_und_Projekte/Europa/Tuerkei/Landesinformation.jsp>
Ein hoher Anteil an Kinderarbeit trägt zur „Wertschöpfung“ ebenso bei, wie eine ausgeprägte Schattenwirtschaft das Überleben einer großen Zahl von Familien sichert. So heißt es, dass 18% aller illegal Beschäftigten Kinder seien und der Anteil der abhängig Beschäftigten beträgt nur 24% am BIP. 30% aller Kinder zwischen 7 und 14 Jahren arbeiten bis zu 10 Stunden täglich und von diesen Kindern besuchen 78% die Schule nicht (https://www.sosyalsiyaset.net/ger/index4.htm). Kinderarbeit ist zwar offiziell verboten, aber die Zahlen sprechen eine andere Sprache. Dramatische Einkommensunterschiede bleiben. Im Bericht der KfW heißt es, die Wohlstandsschere klaffe „immer weiter auseinander“. Ergebnis „neoliberaler“ Wirtschaftspolitik im Zeitalter der Globalisierung?
Deutschland
Der Deutsche Blick auf die Türkei ist zutiefst interessengesteuert. Für die Ära Schröder/Fischer trifft die zitierte Aussage Schröders die gesetzte Priorität:
„Entscheidungsprozesse der internationalen Politik und die Unterstützung durch die USA sowie EU zeigen, wie sehr die Türkei als ‚Stabilisierungsfaktor in einer Region der Instabilitäten‘ (G. Schröder) angesehen und anerkannt wird.“ <https://www.ag-friedensforschung.de/regionen/Tuerkei/cakir3.html>
An zweiter Stelle besteht der Blick aus dem, was an anderer Stelle von Roth/Özdemir als „bornierter Nationalismus“ durchaus zutrifft. Es ist der innenpolitische Blick auf die in Deutschland lebende größte ethnische Minderheit, die Türken, der sich teilweise in schamlosen und offenen Rassismen ergeht.
Der Dritte ist der Blick der „Deutscheuropäer“ in der die Befürworterinnen und Befürworter eines Beitrittes der Türkei zur EU in der Minderheit sind.
Bereits im Jahr 1998 in einem Interview der ZEIT mit dem damaligen Premier Mesut Yilmaz erklärt dieser: „Ich glaube, dass der gegenwärtige Stand der deutsch-türkischen Beziehungen nicht von Dauer sein wird. Wir haben zu viele gemeinsame Interessen. Als ich im September vorigen Jahres Herrn Kohl in Bonn besuchte, hat er mir gesagt: Die Türken haben uns nie im Stich gelassen. Daraus habe ich den Schluss gezogen, dass uns Deutschland auf dem historischen Gipfeltreffen in Luxemburg im vorigen Dezember ebenfalls nicht im Stich lassen würde, als es darum ging, die künftigen Beitrittskandidaten der Europäischen Union zu benennen. Die Türkei gehört zu Europa. Wir haben auf ein klares Signal gehofft. Aber die EU hat die Türkei ausgegrenzt. Für uns war das eine bittere Enttäuschung. Ich habe versucht, seine (Helmut Kohl, sim) Einwände auszuräumen. Insbesondere war er besorgt über eine mögliche Freizügigkeit türkischer Arbeitskräfte im Fall einer EU-Mitgliedschaft der Türkei. Ich habe klargestellt, dass wir eine türkische Vollmitgliedschaft in der EU keineswegs von heute auf morgen anstreben. Wir werden lange brauchen, um unsere Lücken im Bereich von Demokratie und Menschenrechten zu schließen, um Inflation und Arbeitslosigkeit erfolgreich zu bekämpfen. Uns ging es in Luxemburg um eine langfristige Perspektive. Wir wollten eine Gleichbehandlung der Türkei mit jenen mittel- und osteuropäischen Ländern, die als Beitrittskandidaten genannt wurden. Vor dem Gipfel in Luxemburg habe ich davor gewarnt, dass wir auf eine Diskriminierung der Türkei sehr scharf reagieren würden. (…) Schauen Sie, ich bin ein großer Freund Deutschlands. Aber Sie können nicht ewiglich eine Freundschaft fortführen, wenn Sie schwer beleidigt worden sind. Das ist augenblicklich unsere Stimmung. Und diese Beleidigung wurde unserer Ansicht nach von der deutschen Regierung veranlasst.“ <https://www.zeit.de/1998/17/Wir_haben_die_Nase_voll>
Yilamz sprach von Lippenbekenntnissen, mit denen die EU die Türkei weitere Jahrzehnte hinhalte und bemerkte den Strategiewechsel der EU nach dem Kalten Krieg, der ursächlich in den wirtschaftlichen Interessen an den ehemaligen GUS Staaten, (die seinerzeit Mitglieder der EU werden sollten und nun teilweise sind) läge.
Eine Unterbrechung fand diese Sicht der Dinge gewiss unter Rot/Grün, Schröder/Fischer. Als Geostrategen befürworteten beide den Beitritt. Der Ex-Kanzler (Kohl, sim.), dessen Schwiegertochter Türkin ist, warnte es sei „unfair und unehrlich“ gegenüber der Türkei, „wenn jetzt einige den Beitritt versprechen (Schröder, Fischer, Chirac, sim.), wohlwissend, dass sie ihre Zusagen selbst nicht mehr einhalten müssen und sie auch wissen, dass sie die Zustimmung ihrer Länder für einen Beitritt nicht bekommen werden“. Das gelte für den französischen Staatspräsidenten Chirac wie auch für einige andere Politiker. Kohl sagte: „Herr Schröder möchte vor allem Wahlen gewinnen und hofft mit seiner Haltung auf Sympathien bei den wahlberechtigten Türken in Deutschland.“ Kohl äußerte, er rate von einer Aufnahme der Ukraine in die EU ab, weil auf das strategische Umfeld, vor allem die Nachbarschaft zu Russland, Rücksicht genommen werden müsse. <https://www.politik.de/forum/mittelmeer/88195-helmut.html>
Seit 1998 ist ein weiteres Jahrzehnt vergangen und ein zweites angebrochen. Seither hat die Türkei sich zwar nicht völlig von der EU abgewandt, aber die Beitrittsbegeisterung hat schwer gelitten. Allenfalls kann davon ausgegangen werden, dass Ankara die EU als „zweckdienlich auf Zeit“ ansieht und gemäß der für sie wirtschaftlichen Bedeutung ihre Außenpolitik bilateral mit einzelnen Staaten der EU (dito zweckdienlich) gestaltet. Hinsichtlich ihrer Mitgliedschaft in der NATO dürfte Ankara längst der eigene Machtzuwachs innerhalb der NATO bewusst geworden sein. Wir können davon ausgehen, dass die USA die Türkei als ausgesprochen wichtigen Partner der NATO betrachten, der an der Nahtstelle zu den ökonomisch unverzichtbaren Rohstoffstaaten, allesamt in mehr oder weniger heftigen, instabilen Lagen, teilweise militärisch umkämpft, als Garant für den Status Quo gilt. Die aktuellen Aufstandsbewegungen im Mittelmeerraum orientieren sich am politisch/wirtschaftlichen Modell Türkei und hinsichtlich wirtschaftlicher und politischer Macht, ist die Türkei als Counterpart zum Iran für die USA erkennbar unverzichtbar. Für die Europäer aber eigentlich auch …
Die Türkei arbeitet, folgt man Yilmaz, bereits seit langem daran, zum ökonomischen Schwergewicht zu werden. Mit Erdoğan ist sie auf diesem Weg weit voran gekommen. Ausgestattet mit großem Selbstbewusstsein, arbeitet die Türkei außenpolitisch daran, zum Big Player in jeder Hinsicht zu werden.
P.S.: Helmut Kohl sagte lt. Mahmut Yilmaz einmal, „die Türken haben uns Deutsche nie im Stich gelassen“. Das soll hier nicht bestritten werden. Aber dennoch fragt man sich, was meinte Kohl? Historisch herausragend sind im späten 19. Jahrhundert und im 20. Jahrhundert drei Stationen im deutsch-türkischen Verhältnis: Im 1. Weltkrieg war die Türkei Verbündeter der Achsenmächte (Deutschland-Österreich), im 2., dem Nationalsozialistischen Verbrecherkrieg wahrte die Türkei Neutralität bis 1945 und trat kurz vor Kriegsende an die Seite der Alliierten und das „Wirtschaftswunder“ der Deutschen wäre ohne die türkische Zuwanderung kaum denkbar.
Grüne Position
Leider findet man abgesehen von einigen wenigen grundsätzlichen Beiträgen wenig und noch weniger wirklich aktuelles zur Entwicklung in der Türkei. Verkürzt gesagt, sind wir für den Beitritt der Türkei, sofern sie die EU-Bedingungen erfüllt. In einem Antrag der Bundestagsfraktion vom 16.3.2011 wird in sieben Punkten gefordert:
1. mit neuen außen- und europapolitischen Initiativen die Blockadehaltung in den EU Beitrittsverhandlungen mit der Türkei aufzugeben und auf höchster Ebene gegenüber der Türkei
glaubhaft deutlich zu machen, dass Deutschland an einer glaubwürdigen Beitrittsperspektive der Türkei interessiert ist,
2. sich gegenüber den anderen Mitgliedsstaaten dafür einzusetzen, die Blockaden von Seiten einzelner Mitgliedstaaten zu lösen,
3. die Verhandlungen zum EU-Beitritt der Türkei wieder ergebnisoffen zu gestalten und nicht faktisch zu verhindern,
4. den proeuropäischen Kräften in der Türkei den Rücken zu stärken,
5. sich gegenüber den anderen Mitgliedsstaaten und der Türkei dafür einzusetzen, die Blockaden aufgrund mangelnder Umsetzung des Ankara-Protokolls zu lösen,
6. die Forderungen des vom Bundestag gefassten Beschlusses (Drs. 16/5259) in der Zypernfrage umzusetzen und sich nicht einseitig in diesem Konflikt zu positionieren.
7. Schritte zur Erleichterung der Erteilung von Visa einzuleiten, die die oft unwürdigen Prozeduren insb. für offensichtlich nicht an dauerhafter Immigration interessierten Gruppen wie Studenten, Professoren und Geschäftsleute beendet.
Der bereits mehrfach zitierte Politischer Jahresbericht 2006, HBS, ist der umfangreichste Grundsatzbeitrag, welchen ich fand. Meine Unzulänglichkeit, falls es umfangreicheres gibt, bitte ich zu entschuldigen.
Aus GRÜNER Perspektive wird es notwendig sein, die drei Punkte, die ich unter „Deutschland“ ganz zu Anfang als „deutsche Sichtweisen“ beschrieb, ganzheitlich zu analysieren und die sich daraus ergebenden Fragen zu beantworten.
Aus der Schröder/Fischer’schen Position, also der Position der „Geo-Strategen“, leitet sich die GRÜNE Position bereits her. Sie verfolgt das Interesse, der engen Westbindung der Türkei. Sie ging, und mehr denn je muss man davon ausgehen, davon aus, dass sich die Türkei nicht beliebig mit „Lippenbekenntnissen“ der EU abspeisen lassen wird, sondern dass man zielstrebig Ernst machen muss mit der Beitrittsperspektive und dazu klare Zeiträume genannt werden müssen. Tendenziell stellt sich heute, Jahre später die Frage, ob die aktuelle Entwicklung nun dazu zwingt, Forderungen an die Türkei zu revidieren. Gewisse „No Goes“ für die Türkei wären möglicherweise verhandelbar gewesen, wenn man einen klaren Zeitrahmen und gemeinschaftliche, politisch-wirtschaftliche Lösungsvorgaben verfolgt hätte, etwa in der Zypern-Frage. Heute aber sieht die Türkei die Beitrittsperspektive kaum noch und sie wird angesichts der Entwicklung eigener Stärke auch weniger wichtig. Wozu also noch verhandeln?
Eine große Gefahr stellen die atomaren Pläne der Türkei dar, getoppt würde diese Gefahr durch einen Griff der Türkei nach der Atombombe.
Das politische Verhältnis Deutschlands zur Türkei hat tendenziell innenpolitische Auswirkungen. Einerseits lassen sich Rassismen gegen die türkische Minderheit in Deutschland mobilisieren, in dem Maße wie Deutschland sein Verhältnis zur Türkei verschlechtert, andererseits werden sich die Angehörigen der Minderheit am Deutschen Verhältnis zur Türkei orientieren. Möglichkeiten der Eskalation, wie sie etwa nach dem Erdoğan-Besuch in Deutschland und seiner Ansprache vor Tausenden von Angehörigen der Minderheit sichtbar wurden, werfen eindeutig Fragen auf. Türkischer Nationalismus ist in Deutschland virulent. Dies allein mit unserer, gewiss vorbildlichen, GRÜNEN Migrationspolitik beantworten zu wollen, greift zu kurz.
Die Politik der „Deutsch-Europäer“, verkörpert durch Merkel und Co. hat im konservativen Spektrum Europas großen Einfluss und stellt durch die Melange aus geringschätzender außenpolitischer Bedeutung der rasanten Entwicklung in der Türkei einerseits, nationalistischer Borniertheit und innenpolitischer Ressentiments eine spezielle, gefährliche Mischung dar, die der deutschen/europäischen Außenpolitik gerade deshalb großen Schaden zufügt, weil sie durch Versprechungen, die nicht gehalten werden (sollen), Erwartungen weckt, die die Glaubwürdigkeit der deutsch/europäischen Außenpolitik auf lange untergräbt. Kohl hatte recht in einem: Es sei unfair (von Schröder/Fischer) den Türken Versprechungen zu machen, die sie nicht halten müssten oder könnten. Hinzuzufügen ist dem nur, dass Kohl ein Oberheuchler war, dessen politische Parteigänger mehrheitlich genau auf ein Scheitern des Beitrittsprozesses hinarbeiteten. Ihm und seiner Partei war von vornherein klar, dass sie alles daran setzen würden, die Türkei stets im Vorzimmer der EU sitzen zu lassen (privilegierte Partnerschaft). Ein solcher Vorwurf lässt sich gegen Schröder/Fischer nicht erheben. Das hat letzten Endes Rückwirkungen auf die Innenpolitik, also das Verhältnis der Deutsch-Türken zu Deutschland, freilich auch das Verhältnis der „Deutsch-Deutschen“ zur türkischen Minderheit.
Last but not least, müssen wir uns die Frage stellen, wie wir Grüne unseren Standort zur Entstehung neuer internationaler Machtkonstellationen (etwa Türkei als Regionalmacht/potentielle Großmacht?) stellen. Um eine Analyse der Entwicklungstendenzen der Interessenwidersprüche im Zuge der Neuordnung der Mächte und daraus abzuleitende mögliche Folgen, sollten wir uns vor einem in Aussicht stehenden Regierungswechsel in Deutschland bemühen. Die Entwicklung der Türkei, die Veränderungen in ihrer Außenpolitik, zum Beispiel „Zukunft der Beziehungen Türkei/Israel“ im Bündniskontext (NATO) könnte uns spätestens in 2013 in voller Härte als Regierungspartei treffen. Die Umgestaltung der Machtverhältnisse im östlichen Mittelmeerraum dürfte bis dahin abgeschlossen sein. Und da wird die Türkei ein gewichtiges Wort mitreden, aber welches?
Es sollte sich von selbst verstehen, dass eine entsprechende Analyse Einfluss auf die Bewertung von Auslandseinsätzen aller Art hat. Da wird man von uns GRÜNEN präzisere Ansagen erwarten dürfen.
Einige Fragen (unvollständig)
1) An vorderster Stelle: Hat die Türkei noch ein Interesse an einem solchen Beitritt? Kann und wird sie sich nicht eher als regionale Macht etablieren, Schulterschluss über NATO und USA? Wird sie nicht eher und schneller als Regionalmacht zu etablieren sein, indem sie die EU als wirtschaftlichen „Zulieferer“ und „Absatzmarkt“ nutzt, während sie sich politisch und militärisch unabhängig in der Region absichert?
2) Die Absichten der EU, so scheint mir schon heute sichtbar, sind dem Pt. 1 untergeordnet und machen nur Sinn, wenn die Türkei sich eine Beitrittsabsicht erhält. Dazu werden Angebote der EU erforderlich sein. Welche könnten das a) aus EU Sicht sein? Und für die GRÜNE Position schwerer wiegend, welche aus GRÜNER Sicht?
3) Die besondere deutsche Sicht auf die Türkei ist freilich stark abhängig von der europäischen Entwicklung. Nehmen wir einmal an, die Ära Merkel unter welchem Vorzeichen auch immer, geht zu Ende und es kommt zu einer politischen Veränderung – welche auch immer – wird sich Deutschland kaum aus dem europäischen Kontext lösen (dies wäre schon eher unter Merkel-Westerwelle denkbar). Der europäische Kontext gegenüber der Türkei wird zunächst bis auf weiteres durch Sarkozy und die Österreicher bestimmt, und auch einige kleinere europäische Staaten wollen keinen Beitritt. Also – was könnte realistischer weise angeboten werden? Zumal – welche Vorschläge können GRÜNE machen? Was davon könnte eine wirtschaftlich und politisch gestärkte Türkei ernst nehmen?
4) Angenommen, es käme zu einem moderaten politischen Wechsel in Europa (zur Zeit überwiegen geradezu die EU Gegner im EU Parlament), selbst diese Option scheint mir derzeit kaum absehbar, also nicht wirklich realistisch, die gleichen Fragen wie unter 3).
5) Sich taktisch Verhalten hieße, weiter und ohne die veränderte Situation zu berücksichtigen, an alten Forderungen gegenüber der Türkei fest zu halten und ungeachtet der veränderten Situation die Beitrittsoption (substanzlos!) vor sich her zu tragen (bezogen auf die GRÜNE Position, denn die EU / Deutschland macht das eh schon und wird von der Türkei nicht mehr ernst genommen). Würden wir so in eine künftige Regierung (was ja erfreulich denkbar ist!) eintreten, wären wir m.E. mehr als schlecht beraten.