Nov 18 2021
Status nuklear
Gastbeitrag von Detlef zum Winkel, 18.11.2021
Cool bleiben oder nervös werden? Bedächtige Politiker und renommierte Medien, die in der Regel jedes Wort abwägen, bevor sie es in die Öffentlichkeit entlassen, benutzen in diesen Tagen eine nahezu übereinstimmende Sprachregelung zum Atomausstieg. Sie lautet, dass die verbliebenen sechs deutschen Atomkraftwerke nächstes Jahr vom Netz gehen. Das ist eine bemerkenswert ungenaue Formulierung. Die Hälfte dieser AKWs – Grohnde, Brokdorf und Gundremmingen C – soll nämlich planmäßig am 31. Dezember dieses Jahres abgeschaltet werden. Das ist in sechs Wochen. Ein Jahr später folgen mit Neckarwestheim 2, Isar 2 und Emsland die restlichen drei Meiler.
Warum wollen sich politische und mediale Profis auf diese in ihrer Schlichtheit kaum zu übertreffende Feststellung scheinbar nicht festlegen? Gewiss darf man diesen Befund nicht überbewerten. Doch scheint er einen flüchtigen Einblick in die beteiligten Mentalitäten zu gewähren. Die instinktive Ungenauigkeit erinnert, wo wir gerade beim Nuklearen sind, an die berühmte Heisenbergsche Unschärferelation, bekanntermaßen eine Meisterleistung des deutschen Geistes. Je näher man einem Objekt kommt, desto mehr verschwimmen seine Konturen. Je präziser ich ein AKW identifiziere, desto undeutlich wird der Termin seiner Stilllegung und umgekehrt.
So nährt sich der Verdacht, dass die Abschalttermine ein Thema bei den aktuellen Ampel-Verhandlungen sein könnten. Dass man vielleicht überlegt, ein oder zwei oder sogar drei Atomkraftwerke ein bisschen länger zu betreiben, bis sich der aktuell rasante Anstieg der Energiepreise wieder gelegt hat. Dann aber würde der gesamte Ausstieg wackeln.
Diesem Verdacht wird von Seiten grüner Politiker widersprochen, und es besteht kein Anlass, an deren Aussagen zu zweifeln. Hören wir nun, was die FDP als Hauptansprechpartner der Atomlobby dazu erklärt. Christian Lindner antwortete der FAZ in einem Interview am 3.11. auf die Frage nach einer Laufzeitverlängerung:
„Das wäre 2021 weder rentabel noch realistisch. Persönlich sehe ich die Kernenergie ordnungspolitisch kritisch, da es sich um eine Energiequelle handelt, die im Markt nicht zu versichern ist und daher die Staatshaftung gegen den GAU braucht. Jenseits der abstrakten Debatte gibt es in Deutschland weder einen privaten Betreiber noch Standorte. Zudem würde man einen beendeten gesellschaftlichen Großkonflikt wieder eröffnen. Deshalb komme ich zu dem Schluss, dass die Kosten einer Laufzeitverlängerung in jeder Hinsicht den Nutzen übersteigen würden.“
Wichtig ist hier der erste Satz: Diese Lagebeurteilung gilt für 2021. Früher oder später wird uns die Ausstiegsdebatte wieder einholen. Momentan lohnt sich aber auch ein Blick zurück, um die Meiler in Grohnde, Brokdorf und Gundremmingen gebührend zu verabschieden. Wenn sie nie gebaut worden wären, stünden wir heute ökologisch und ökonomisch weit besser da. Vielen Dank für dreieinhalb verlorene Jahrzehnte.
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1 Kommentar
Weitergegeben aus dem Mailverteiler Grüne-Linke, KWK)
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Ihr Lieben,
… Laufzeitverlängerungen? Die Sorge muss sich niemand machen.
Liebe Grüße aus dem Schweigeraum
Sven
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Sven Giegold, MdEP
http://www.sven-giegold.de