Sag NEIN! Grüne Positionen gegen die Wehrpflicht

„Macht und Wohlstand sind ungerecht verteilt. Geraten diese Verhältnisse ins Wanken, sind damals wie heute Soldaten an der Reihe, sie wieder zu sichern. Es gibt aber viele Wege, sich der Bundeswehr zu entziehen. Wenn ihr den Dienst mit eurem Gewissen nicht vereinbaren könnt: Verweigert! Lasst euch nicht missbrauchen! Beruft euch auf das Grundgesetz!“

Ludwig Baumann (1921-2018) – Wehrmachtsdeserteur, Mitbegründung der Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e.V. und lebenslang aktiv gegen Krieg und Wehrdienst in seiner Autobiographie „Niemals gegen das Gewissen“

Nach zwei von deutschem Boden begonnenen Weltkriegen war in den Absichtserklärungen der Anti-Hitler-Koalition überhaupt keine deutsche Armee mehr vorgesehen. Im Grundgesetz wurde die Wehrpflicht erst 1955 nachträglich hinzugefügt und 2011 zunächst ausgesetzt.

Eine Wiedereinsetzung oder gar Ausweitung der allgemeinen Wehrpflicht – auch mit der Option von Diensten im „Bevölkerungsschutz“ – würde die weitere Bagatellisierung von Kriegsvorbereitungen und einen Vorrang des Militärischen bedeuten. Wir lehnen diese Vorhaben des Bundesverteidigungsministers ab.

Kriege zerstören Wohlstand, Freiheit, Menschenleben und Kultur. Dies gilt auch für die Ausrichtung von Wirtschaft, Bildung und Ausbildung auf Kriegsführung. Wir wollen stattdessen das Grundgesetz mit seinem friedensstiftenden Gehalt zur Geltung bringen:

»Im Bewußtsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen, von dem Willen beseelt, als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen, hat sich das Deutsche Volk kraft seiner verfassungsgebenden Gewalt dieses Grundgesetz gegeben.« (Präambel, GG)

»Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.« (Art. 1, Abs. 1)

»Jeder hat das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit.« (Art. 2, Abs. 2)

»Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden. Das Nähere regelt ein Bundesgesetz.« (Art. 4, Abs. 3)

»Handlungen, die geeignet sind und in der Absicht vorgenommen werden, das friedliche Zusammenleben der Völker zu stören, insbesondere die Führung eines Angriffskrieges vorzubereiten, sind verfassungswidrig. Sie sind unter Strafe zu stellen.« (Art. 26, Abs. 1)


Im Folgenden findet ihr verschiedene Texte zum Thema. In den kommenden Tagen werden weitere Texte ergänzt. Klickt auf die grünen Überschriften, um die Texte zu lesen, und noch einmal, um die Texte wieder zu “verstecken”.

Grüne Positionen zur Wehrpflicht. Was sagen Basis-Mitglieder? >


Grüne Positionen gegen die Wehrpflicht

Svenja Horn, KV Hamburg-Mitte

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Sag Nein!

Grünen-Positionen zur Wehrpflicht. Historischer Überblick über Aussagen in Parteiprogrammen >


Grünen-Positionen zur Wehrpflicht – Was war die Argumente für die Abschaffung der Bundeswehr und warum wurde davon abgerückt?
Die Ethik der Gewaltfreiheit ist eine Ethik der Erhaltung und Entfaltung des Lebens.
(Grundkonsens 1993)

 
„Nur wenn das Recht an die Stelle der Gewalt tritt, kann die Menschheit überleben“, formulierten die neu gegründeten Grünen im ersten Bundesprogramm 1980 und forderten, die Vereinten Nationen zu stärken und zu einem wirksamen Instrument der Friedenspolitik im Sinne des Selbstbestimmungsrechtes der Völker auszubauen.
Konkret lauteten die Forderungen:

  • Kein Vetorecht mehr in der UN
  • Abbau der Bundeswehr und des staatlich verordneten Ersatzdienstes
  • Förderung freiwilliger sozialer Dienste
  • Uneingeschränktes Recht auf Kriegsdienstverweigerung
  • Abschaffung des diskriminierenden Gewissensprüfungsverfahrens

Aufgabe des Militärs ist es zu zerstören und zu töten, stellte die Partei im Bundesprogramm 1987 fest. „Nicht Frauen rein, sondern Männer raus aus dem Kriegsdienst ist das Ziel einer emanzipatorischen Friedenspolitik.“ Damit stellten sich die Grünen gegen die erleichterte „militärische Verwendbarkeit von Frauen durch die veränderte Kampftechnologie – Knopfdruck statt Körperkraft“.

Nach der Wiedervereinigung forderten die Grünen im Bundesprogramm 1990 die Streichung sämtlicher Rüstungsausgaben und die Auflösung der Bundeswehr. Eine europäische Friedensordnung könne durch aktive Blockauflösungspolitik einerseits und Intensivierung der blockübergreifenden Zusammenarbeit andererseits konkrete Gestalt annehmen.

Sie schrieben: „Wir müssen raus aus der NATO, weil es mit der NATO keinen Frieden geben kann und die Schwächung, Desintegration und schließliche Aufhebung dieses Militärpakts unabdingbar ist, um Frieden zu schaffen. Friedenspolitik kann nicht auf der Basis von Militärblöcken betrieben werden.“

Alle verurteilten totalen Kriegsdienstverweigerer seien zu amnestieren und alle Pläne zur Einbeziehung von Frauen in den Militär- oder Zivildienst aufzugeben. Und aus heutiger Sicht bemerkenswert:

„Mit ihrer Bereitschaft, substantielle einseitige Abrüstungsmaßnahmen durchzuführen und weitgehende Abrüstungsvorschläge zu machen, sowie mit der Idee von einem ‚gemeinsamen Haus Europa‘, in dem die Blockkonfrontation aufgehoben wird, hat die jetzige sowjetische Führung ein breites Echo bei den Menschen in Ost und West gefunden. Das langjährige Wirken der Friedensbewegung hat Feindbilder abgebaut und dadurch Voraussetzungen für Abrüstung geschaffen. Die internationale ‚Friedens- und Abrüstungsdiplomatie‘ ist in Zugzwang geraten, dem sich auch die NATO nicht mehr mit dem gewohnten Vorurteil entziehen kann, es handle sich ohnehin nur um eine andere Spielart kommunistischer Weltrevolutionspläne.
Trotz dieser guten Voraussetzung müssen die Grünen feststellen: Die NATO-Zentrale sperrt sich weiterhin gegen umfassendere Abrüstungsvorschläge; Aufrüstungsprogramme werden hinter den Kulissen sogar ungebremst fortgesetzt. Dies gilt auch für die Politik der Bundesregierung, die sich öffentlich gern als Motor von Frieden und Abrüstung darstellt, für 1990 aber den höchsten Rüstungshaushalt in der Geschichte der BRD durchgesetzt hat.“

Plakat der Grünen zur Bundestagswahl 1983

Die verlorene Bundestagswahl 1990 und die angestrebte Fusion mit dem Bündnis 90 führten zu einer „realpolitischen Wende“. Zahlreiche Vertreter*innen des linken Flügels verließen die Partei. Auf dem Bundesparteitag 1991 in Neumünster stellte sich Petra Kelly zur Wahl als Vorsitzende – und bekam 39 Stimmen.

Der GRUNDKONSENS hielt 1993 noch fest:
„Die Ethik der Gewaltfreiheit ist eine Ethik der Erhaltung und Entfaltung des Lebens.“
Im wiedervereinigten und -erstarkten Deutschland wehrt sich die Partei zunächst noch gegen die zunehmend expansive und offensive Außenpolitik.

Forderungen aus dem Papier „Reformprojekte Bundestagswahl 1994“:

  • Verzicht auf eine NATO-Ausdehnung nach Osten und den Einsatz für eine Entmilitarisierung der „Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik“ der Europäischen Union.
  • Beteiligung der Bundeswehr an militärischen Offensivstrategien der NATO und WEU, an nuklearen Einsatzplanungen und an Einsätzen außerhalb des Bündnisgebietes wird abgelehnt.
  • Beendigung der Umstrukturierung von großen Teilen der Bundeswehr („Krisenreaktionskräfte“) zu einer weltweit einsetzbaren „Schnellen Eingreiftruppe“.
  • Mit der Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht und der alternativen Einrichtung von freiwilligen zivilen Friedensdiensten soll die Auflösung der Bundeswehr begonnen werden. Die dann noch verbleibende Bundeswehr aus Berufs- und Zeitsoldaten soll binnen vier Jahren auf die Hälfte reduziert werden.

Noch 1994 heißt es im Bundestagswahlprogramm: „Wir wollen außenpolitische Verantwortung für die Schaffung einer menschenwürdigen Weltgesellschaft und die Bewahrung der natürlichen Lebensgrundlagen übernehmen.“

Den „Leitgedanken für eine neue Außenpolitik“ stellt es grundsätzliche Kritik am Kurs der Bundesregierung voran: „BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN wenden sich gegen die herrschende Politik, in der Deutschland die Rolle einer klassischen Großmacht in der internationalen Politik spielen soll. Sie hat für die heraufziehenden Probleme des 21. Jahrhunderts, die ökologische und soziale und damit Menschheitsprobleme sind, keine konstruktiven Antworten. Ihr „weiter so“ führt in die Katastrophe. Wir müssen damit brechen.
BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN entstammen den Traditionen der Friedens-, der Dritte-Welt- und der Menschenrechtsbewegungen. Sie fühlen sich verpflichtet den Ideen der Gewaltfreiheit, der globalen Solidarität und der Durchsetzung der Menschenrechte. Daraus folgt ein der herrschenden Politik diametral entgegengesetztes Verständnis von Außenpolitik.“

Plakat der Grünen zur Bundestagswahl 1983

Die Kehrtwende in der Friedenspolitik erfolgte spätestens im Programm 1998 (Damals gehörte u.a. Ralf Fücks zum Bundesvorstand, Joschka Fischer wurde 1994 Sprecher der Bundestagsfraktion und 1998 Außenminister): „Wir wollen entmilitarisieren, aber wir wollen keinen deutschen Sonderweg. Ein einseitiger Austritt Deutschlands aus der NATO ist abzulehnen.“

Für das „Ziel umfassender Sicherheit und Kooperation“ setzen die Bündnisgrünen jetzt auf eine „neue transatlantische Agenda“.

Die Abschaffung der „allgemeinen“ Wehrpflicht wird gefordert, denn eine zu versorgende Armee aus hunderttausenden (eher unmotivierten) Wehrdienstleistenden ist teuer und nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen wollen die Grünen auf eine schlagkräftige Freiwilligenarmee umstellen.

Dem Eintritt in die Regierung Schröder folgt im Jahr 1999 der Kosovo-Krieg und 2001 die Invasion in Afghanistan.

Hier positionierten sich die deutschen Grünen nicht nur für die völkerrechtswidrige NATO-Intervention. Als Regierungspartei trugen sie einen wesentlichen Teil der politischen Verantwortung für die deutsche Beteiligung am Kosovo-Krieg und bespielten in der Person von Außenminister Joschka Fischer die Argumentation „Verteidigung der Menschenrechte“. Die Beteiligung der maßgeblich aus der Friedensbewegung hervorgegangenen Grünen trug dazu bei, in der Bevölkerung Akzeptanz für die erste aktive Kriegsbeteiligung mit deutschen Truppen nach 1945 herzustellen.

Auf dem Parteitag hatte sich der Bundesvorstand mit einem Antrag zum Kosovo-Krieg gegen die Parteilinke durchgesetzt. Die Forderungen der Parteilinken für einen unbefristeten und bedingungslosen Stopp der Nato-Luftangriffe auf Jugoslawien fanden nach kontroverser und emotional aufgeladener Debatte mit 318 zu 444 Stimmen keine Mehrheit. Es folgte der Austritt zahlreicher Mitglieder.

Auch die Zustimmung zur Invasion in Afghanistan wurde 2001 mit dem Argument der Bündnistreue und des Kampfes gegen Terrorismus hergestellt. In Folge der weltweiten Bewegung zur Verhinderung des Irakkriegs – einschließlich der bisher größten Friedensdemonstration über 72 Länder im Februar 2003 – gelang es, die Beteiligung an der US-geführten „Koalition der Willigen“ zur Invasion des Irak zu verhindern. Die rot-grüne Koalition machte sich diese Ablehnung der Regime-Change-Intervention im Wahlkampf 2002 zu eigen (Kanzler Schröder: „Solidarität ja – Abenteuer nein“) und wurde erneut gewählt.

Grundsatzprogramm 2002

„Völkermörderische oder terroristische Gewalt“ (wie auch immer man diese definiert) erlaube Ausnahmen von der Gewaltfreiheit. Die „Durchsetzung der Menschenrechte“ wird zur Legitimierung und moralischen Verbrämung für Einmischung in andere Staaten reklamiert.

Betont wird die Stärkung „kollektiver Sicherheit“ durch Integration im transatlantischen Bündnis samt dem „dauerhaften amerikanischen Engagement in Europa“ und hier stationierten US-Atomarsenalen.
Entsprechend stellt das Programm klar: Die Bildung gemeinschaftlicher Eingreiftruppen soll nicht zur Schaffung einer neuen militärischen Großmacht Europäische Union führen.

Der „Grundrechtseingriff der Wehrpflicht“ sei angesichts der grundlegend veränderten Aufgaben der Bundeswehr nicht mehr legitimierbar.

Im Wahlprogramm 2002 rückt ein „dauerhafter Frieden“ ans Ende des Programms. Jetzt heißt es nicht mehr: Bundeswehr abschaffen, sondern: „Bundeswehr verändern“.

Die „internationale Friedenssicherung“ erfordere eine Weiterentwicklung der bisherigen Reform der Bundeswehr. Gemäß den Vorschlägen der Weizsäcker-Kommission soll die Bundeswehr deutlich verkleinert und die Wehrpflicht abgeschafft werden.

Im Bundestagswahlprogramm 2005 heißt es: „Der Umbau der Bundeswehr für internationale Krisenbewältigung war überfällig.“

Die Wehrpflicht sei sicherheitspolitisch nicht mehr zu rechtfertigen (keine Bedrohung in der Nachbarschaft). „Deshalb streiten wir für ihre Abschaffung und wollen sie durch einen freiwilligen flexiblen Kurzdienst ersetzen.“

2011 wird unter der schwarz-gelben Koalition unter Zustimmung der Grünen die allgemeine Wehrpflicht ausgesetzt. Zugleich wird ein freiwilliger Wehrdienst von sechs bis 23 Monaten geschaffen, der Männer und Frauen gleichermaßen offensteht. Bis zu 15.000 Freiwillige sollen in Zukunft neben den Zeit- und Berufssoldaten in der Bundeswehr dienen.

Seit 2018 gibt es mit Annalena Baerbock und Robert Habeck erstmals eine Realo-Doppelspitze. Das Grundsatzprogramm 2020 gibt einen Vorgeschmack auf die neue Bedeutung und Rolle der Bundeswehr in einer erneut kriegstüchtigen Gesellschaft: „Die Prinzipien der „Inneren Führung“ und der „Staatsbürger*innen in Uniform“ binden die Soldat*innen an die Gesellschaft und die Werte und Normen des Grundgesetzes. Eine Bundeswehr, die fest in unserer Gesellschaft verankert ist, muss die Vielfalt der Gesellschaft abbilden. Das betrifft den Anteil von Menschen unterschiedlicher sozialer Herkunft, mit und ohne Migrationserfahrung, von People of Color sowie von Frauen, die in der Bundeswehr beschäftigt sind.“

Getötet wird künftig wertegeleitet: „Die Innere Führung vermittelt diese Werte: Dazu zählen Menschenwürde, Freiheit, Frieden, Gerechtigkeit, Gleichheit, Solidarität und Demokratie. Sie sind stets fester Bestandsteil in der Aus- und Weiterbildung der Soldaten, setzen die Soldaten doch im äußersten Fall für diese Werte ihr Leben aufs Spiel.”

Das Bundestagswahlprogramm 2021 leistet den Schwur: „Deutschland soll sich auf seine Bündnispartner verlassen können und genauso sollen sich die Bündnispartner auf Deutschland verlassen können. Dazu gehört auch, dass die Bundeswehr entsprechend ihrem Auftrag und ihren Aufgaben personell und materiell sicher und planbar ausgestattet und bestmöglich organisiert sein muss.“

Die Rolle der Grünen bei der Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure >

Bedeutung und Verfolgung der Wehrmachtsdeserteure

Nach zwei Jahren NS-Herrschaft, in denen die Opposition blutig niedergeschlagen und verfolgt wurde, erließ das Kabinett unter Hitler am 16. März 1935 das „Gesetz für den Aufbau der Wehrmacht“, das eine allgemeine Wehrpflicht festschrieb.

1939 begann der faschistische Eroberungsfeldzug, der in Richtung Osten als brutaler Vernichtungsfeldzug geführt wurde. Allein in der Sowjetunion, die die Hauptlast bei der Befreiung Europas vom deutschen Faschismus trug, wurden 27 Millionen Menschen durch die deutschen Wehrmachts- und Polizei-Einheiten und ihre Verbündeten getötet. Die Brutalität der faschistischen Kriegführung, die in diesen Zahlen zum Ausdruck kommt, traf auch die Wehrmachtssoldaten. Von den deutschen und österreichischen Männern der Jahrgänge 1910 bis 1925 starben zwischen 29 und 41 Prozent als Soldaten im Zweiten Weltkrieg (Overmans, S. 234).

Warnung an Soldaten vor Fahnenflucht im Februar 1945 in Danzig, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/53/Bundesarchiv_Bild_146-1996-030-12A%2C_Danzig%2C_Frau_vor_Schaufenster.jpg / CC-BY-SA 3.0.

Warnung an Soldaten vor Fahnenflucht im Februar 1945 in Danzig, https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/5/53/Bundesarchiv_Bild_146-1996-030-12A%2C_Danzig%2C_Frau_vor_Schaufenster.jpg / CC-BY-SA 3.0.

Die vorangegangene intensive Kriegspropaganda und Erziehung der Bevölkerung zur Kriegstüchtigkeit waren nicht genug, um den Widerstandswillen vieler zur Wehrmacht Eingezogener gegen das Töten und Getötetwerden zu brechen. In der Wikipedia gelistete Schätzungen gehen von bis zu 400.000 Wehrmachtsdeserteuren aus – viele weitere Menschen haben diese als Fluchthelfer unterstützt. Wer sich in den Eroberungs- und Vernichtungskrieg nicht einfügte, wurde daher drakonisch verfolgt, um als abschreckendes Beispiel die eingezogenen Soldaten zur Beteiligung an der Zerstörung zu drängen: „An der Front kann man sterben, als Deserteur muss man sterben.“ hatte Adolf Hitler bereits 1926 in der Hetzschrift „Mein Kampf“ (Hitler, S. 587) proklamiert. Wie der Militärhistoriker Wolfram Wette schildert, machten die NS-Militärrichter sich zu bereitwilligen Vollziehern dieser Ideologie und verhängten etwa 30.000 Todesurteile gegen Deserteure, Kriegsdienstverweigerer und „Wehrkraftzersetzer“. 20.000 dieser Urteile wurden vollstreckt (Wette, S. 505).

Mit der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht am 8. Mai 1945 endete die Wehrpflicht in Deutschland – gesetzlich verankert in der Kontrollratsproklamation Nr. 2. Während die Kriegsablehnung über das gesamte politische Spektrum in Folge des Zweiten Weltkriegs hoch war, fand die Auseinandersetzung um die Kriegsursachen und die preußisch-deutschen militärischen Traditionen jenseits der Kreise des antifaschistischen Widerstandes wenig Verbreitung. Die Wehrmachtsdeserteure wurden weiterhin als „Vaterlandsverräter“ und „Kameradenschweine“ geächtet. Die wenigen überlebenden Deserteure waren auch in der Bundesrepublik noch offiziell vorbestraft. Ihre Rehabilitation durch den deutschen Bundestag im Jahre 2002 erlebten noch 150 Wehrmachtsdeserteure (Wette, S. 525).

Der Rehabilitationsstreit in der Bundesrepublik

Im Zentrum des Deutungskonflikts in der BRD um die historische Bewertung der Wehrmachtsdeserteure stand stets die ethische Bewertung von Desertion in der eigenen Gesellschaft. Exemplarisch für die beiden Pole sprechen die Gratulation des Wehrmachtsdeserteurs Ludwig Baumann für den Irakkriegsdeserteur und Preisträger des Stuttgarter Friedenspreises, Agustín Aguayo vom 21.12.2007 und eine Bundestagsrede des damaligen rechtspolitischen Sprechers der CDU/CSU-Fraktion, Norbert Geis, vom 16. März 1995:

„Wenn wir es zum Prinzip erheben würden, daß sich grundsätzlich dann, wenn ein völkerrechtswidriger Angriffskrieg von einem Volk ausgeht, die Soldaten aus dem jeweiligen Heer entfernen können, sie Fahnenflucht begehen können, dann würde dieses Prinzip schon im folgenden Fall einer schweren Erschütterung unterzogen, nämlich beispielsweise dann, wenn ein Soldat aus Feigheit und nicht aus Widerstandsgründen die Truppe verläßt und sie dadurch in schwere Bedrängnis, in Todesgefahr bringt und viele ihr Leben lassen müssen. Ein solches Verhalten ist doch unabhängig davon, ob sich die Truppe in einem Angriffs- oder Verteidigungskrieg befindet, immer nicht legitim, immer verwerflich. […] wir dürfen also nicht dazu übergehen, das Verhalten derjenigen, die Fahnenflucht begangen haben, allein deshalb, weil es sich um einen furchtbaren Angriffskrieg gehandelt hat, generell für rechtmäßig zu erklären. Wir müssen bedenken, daß wir damit auf der anderen Seite denen, die geblieben sind, sagen, daß sie generell rechtswidrig gehandelt haben, daß sie im Unrecht gewesen sind und im Grunde genommen falsch gehandelt haben.“ (Norbert Geis, S. 1918)

„Desertion damals und heute hat viele Gemeinsamkeiten. Ich meine nicht, dass man die Naziverbrechen relativieren soll. Ich habe Diktatur erlebt und Demokratie ist für mich ein hohes Gut. Aber sehen wir uns die westlichen Demokratien einmal an: Der UNO-Beauftragte für Ernährung, Prof. Jean Ziegler, beschuldigt unsere reichen Länder des millionenfachen Mordes an den Armen, weil unsere Länder zu ihrem Vorteil der übrigen Menschheit eine Weltwirtschaft aufzwingen, bei der jeden Tag bis zu Hunderttausend Menschen elendig verhungern. Das muss auch verteidigt werden. Wie soll es da denn Frieden geben? Im Gegenteil: Präsident Bush hat auf der Höhe seiner Macht China und anderen Ländern den Atomkrieg angedroht, Kriege, die die Menschheit noch nie hat erleiden müssen. Was kann man da besser tun, als zu desertieren? Ganz egal, ob im Irak oder überall in der Welt. Es ist doch ein Wahnsinn. Wenn ich einen Menschen töte, gelte ich als Mörder, wenn es mir befohlen wird, gelte ich als Held. Du Agustín hast Zeichen gesetzt dafür, dass wir uns niemals mehr von denen da oben dazu missbrauchen lassen sollen, Menschen, andere Völker und uns selber umzubringen. Dafür danken wir Dir. Ich wünsche mir, dass wir gemeinsam mit Dir kämpfen für Gerechtigkeit, für das Leben und für den Frieden.“ (Ludwig Baumann)

Die Position der Grünen als Bewegungspartei

Mit der Friedensbewegung der 1980er gegen die Aufrüstung mit Mittelstreckenraketen bildet sich eine Verweigererbewegung heraus. Die Friedensbewegung bringt auch die Auseinandersetzung um die Wehrmachtsdeserteure auf die Tagesordnung: Die ersten, damals noch hoch umstrittenen Denkmäler zur Ehrung von Wehrmachtsdeserteuren entstehen und die wissenschaftliche Aufarbeitung schreitet voran – 1989 werden erstmals die explizit politischen Deserteure in einer staatlichen Gedenkstätte geehrt. Mit dem Rückenwind der Friedensbewegung gründet sich aus wenigen noch überlebenden verurteilten Deserteuren und „Wehrkraftzersetzerinnen“ die Bundesvereinigung Opfer der NS-Militärjustiz e.V. (Wette, S. 507ff).

Solange die Grünen Teil dieser Bewegung mit kritischer Distanz zum deutschen Staat und seinen Institutionen sind, treten sie aktiv für die antifaschistische Aufarbeitung der NS-Unrechtsjustiz ein – in klarer Gegnerschaft zu Helden-Mythen.

  • 1986: Die Grünen greifen die zivilgesellschaftlichen Initiativen für die Rehabilitierung der Wehrmachtsdeserteure durch eine parlamentarische Anfrage auf.
  • 1990: Die Grünen stellen den ersten Antrag auf Rehabilitierung.
  • 1991: In einem Urteil des Bundessozialgerichts werden die Verurteilungen gegen Wehrmachtsdeserteure erstmals pauschal als Unrecht bewertet.
  • 1993-94: Grüne und SPD im Bundestag stellen Anträge auf Rehabilitierung.
  • 1995: Der Bundesgerichtshof attestiert den NS-Militärrichtern, als „Terrorjustiz“ gehandelt zu haben, die sich eigentlich „wegen Rechtsbeugung in Tateinheit mit Kapitalverbrechen hätten verantworten müssen“ und legt die pauschale Aufhebung ihrer Urteile nahe.
  • 1995: Die Wehrmachtsausstellung des Hamburger Instituts für Sozialforschung erreicht gegen Proteste von Rechts bundesweit geschätzt eine Million Besucher.
  • 1996: Der Wehrmachtsdeserteur und Friedensaktivist Ludwig Baumann wird für den Friedensnobelpreis vorgeschlagen – zu den Unterzeichnern zählen die Grüne Jugend Berlin, Claudia Roth als Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament und Werner Schulz als Parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen-Bundestagsfraktion.
  • 1996: Die neugegründete Grünen-Stiftung wird nach dem Kriegsgegner Heinrich Böll benannt, der aus Furcht vor dem „Heldenklau“ nicht aus der Wehrmacht desertiert, jedoch auf vielfältigen illegalen Wegen so oft wie möglich aus den Kämpfen entkommen war (geschildert in Bölls „Brief an meine Söhne oder vier Fahrräder“ (1985), Kölner Werkausgabe Bd. 23).
  • 1997: In einer Entschließung des Bundestages wird der Zweite Weltkrieg erstmals als verbrecherischer Angriffs- und Vernichtungskrieg bezeichnet, für die Rehabilitierung der Deserteure soll jedoch weiterhin die Einzelfallprüfung gelten – die Grünen-Fraktion trägt diesen Kompromiss nicht mit. (Quelle für die Aufzählung: Wette, S. 512ff.)

Die Position der Grünen als Regierungspartei

Bereits seit der Wiedervereinigung befeuern der Sieg über den Ostblock und die Gebietserweiterung der Bundesrepublik Nationalismus und Chauvinismus. Auf konservativer Seite wird weiterhin mit dem Schlussstrich-Motiv aus Kohls „geistig-moralischer Wende“ gearbeitet, um ein erneutes deutsches Großmachtstreben nach zwei Weltkriegen zu legitimieren. Fischer dagegen rechtfertigt die erste Beteiligung deutscher Truppen an einem Angriffskrieg seit 1945, den völkerrechtswidrigen Krieg gegen Jugoslawien, ausgerechnet mit der vorgeblichen antifaschistischen Läuterung deutscher Politik („Nie wieder Auschwitz“).

Mit dem Wechsel von Stand- und Spielbein beginnen die Grünen, sich in die wirtschaftlich und außenpolitisch aggressivere Politik der Bundesrepublik einzufügen und nonkonformen Protest von der geschichtsbewussten Praxis in hohlen Gestus („Turnschuhe im Parlament“) zu überführen. Das grüne Engagement für Antifaschismus und Frieden nimmt ab, nicht zuletzt durch den Verzicht vieler friedensbewegter Grüner, den Richtungsstreit in der Partei zu führen. Selbst der in die staatlichen Institutionen integrierte Teil der Partei ist jedoch noch beweglich durch Druck aus der Bewegung und von entschiedenen Friedenskräften auf der linken Seite des Parlaments.

  • 1998: Der Koalitionsvertrag der ersten rot-grünen Regierung erwähnt die alte Forderung nach Rehabilitation.
  • 1998 ff.: Von Seiten der Bundesvereinigung Opfer der Militärjustiz besteht der Eindruck, dass mit dem Beginn des Jugoslawienkriegs die Grüne Fraktion sich von den bisherigen gemeinsamen Kämpfen abwendet.
  • 2001: Die PDS setzt die Regierungskoalition unter Zugzwang, indem sie einen alten SPD-Antrag auf Rehabilitierung wortgleich einreicht.
  • 2002: Mit den Stimmen von SPD, Grünen und PDS werden die Wehrmachtsdeserteure ausnahmslos rehabilitiert. Ausgenommen sind nur die „Kriegsverräter“.
  • 2009: Mit den Stimmen aller Fraktionen werden auch die „Kriegsverräter“ rehabilitiert.

Und heute?

Die aus der Ampel-Regierung angekündigte militärische „Zeitenwende“ geht mit der Heraufbeschwörung eines gegen Russland zu führenden „gerechten Kriegs“ unter zunehmender Involvierung der deutschen Bundeswehr einher. Vor diesem Hintergrund liegt in der offiziellen Geschichtspolitik ein deutlicher Fokus auf dem späten antifaschistischen Widerstand der Militärs um den Kreis des 20. Juli; die Rommel-Kasernen der Bundeswehr tragen ihre Namen weiter, während die Wehrmachtsdeserteure keine offizielle Würdigung erhalten.

Auch die Grüne Bundestagsfraktion stimmt 2024 für die Einführung eines Veteranentags, in Hamburg soll sogar zusätzlich der Gründungstag der Bundeswehr gefeiert werden. Zum internationalen Tag der Kriegsdienstverweigerung gibt es keine offiziellen Aufrufe von Parteigliederungen. Demgegenüber sind grüne Basis-Mitglieder in örtlichen Friedensinitiativen sowie mit Parteitagsanträgen für die Würdigung von Wehrmachtsdeserteuren und die Rechte der Deserteure heutiger Kriege aktiv.

Literaturverzeichnis

Rüdiger Overmans: Deutsche militärische Verluste im Zweiten Weltkrieg. Beiträge zur Militärgeschichte, Band 46. De Gruyter München 2009.
Adolf Hitler: Mein Kampf. Zweiter Band: Die nationalsozialistische Bewegung. 9. Aufl., München 1933.
Wolfram Wette: Deserteure der Wehrmacht rehabilitiert. Ein exemplarischer Meinungswandel in Deutschland 1980–2002, in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, 6/2004.

 

 

 

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