Russland und Ukraine – vom Mittelalter in die Gegenwart

Gernot Schulmeister, 13.08.2022, Buchempfehlung

Um etwas Hintergrundinformation zum bestehenden Konflikt in der Ukraine zu erhalten, ist dieses Buch (Andreas Kappler, Ungleiche Brüder, 978-3-406-79006-5, 16.95€) vom Schweizer Andreas Kappeler recht interessant, der alles, meiner Meinung nach, aus einem recht neutralen Blickwinkel betrachtet.

Hier eine kurze Zusammenfassung: Neben dem Streit der Historiker um das Erbe der Kiewer Rus, liegt die Wurzel des Konflikts bereits in der Vereinbarung von Perejaslew von 1654 (https://de.wikipedia.org/wiki/Vertrag_von_Perejaslaw ) bei der sich die ukrainischen Kosaken unter den Schutz des russischen Zaren stellten um gegen die polnisch-lithauische Herrschaft zu kämpfen. Russland war damals noch ziemlich rückständig, hatte wenig Kontakte zu Europa und wollte das zunächst nicht. Danach sah es allerdings den Schutzanspruch für immerwährend an, während er für die Ukraine nur temporär war.

Im 17. und 18. Jahrhundert waren die Ukrainer im Schnitt noch besser gebildet als die Russen und der Informationsfluss ging von Europa über die Ukraine Richtung Russland, im 19. Jahrhundert gelangten die Neuerungen dann von Europa über Russland in die Ukraine.

Mit dem Aufkommen des Nationalismus, der in beiden Ländern erst relativ spät im 19. Jahrhundert auftrat, erreichte der Konflikt eine neue Dimension. Der russische Nationalismus besteht nämlich aus der Dreieinigkeit der Russen, Weissrussen und Ukrainer während der ukrainische Nationalismus sich auf die Ukraine beschränkt und separatistische Bestrebungen hat.

Während sich Russland in seiner Beziehung zu Europa definiert, sah sich die Ukraine schon immer als zentraler Bestandteil von Europa.

Schon damals gab es den Sprachenstreit, dass ukrainisch von Seiten Russlands nicht als eigene Sprache anerkannt wurde und immer wieder wurden die Ukrainer auch belächelt und in Frage gestellt. Während der einzelne Ukrainer im russischen Imperium als Teil des Brudervolks keine Diskriminierung zu fürchten hatte, wurde gegen die kollektiven Interessen der Ukrainer massiv vorgegangen.

Dieses Muster ist auch noch heute zu erkennen, der einzelne Ukrainer, vor allem wenn er loyal gegenüber Moskau ist, hat nichts zu befürchten und wird mit offenen Armen empfangen, aber die kollektiven, ukrainischen Interessen und die Abwendung von Moskau wird massiv bekämpft.

Das heißt aber auch, dass dieser Konflikt in seiner noch immer aktuellen Form schon viel älter als der demokratische, freie Westen ist, der hier mit verteidigt werden soll. Außerdem war und ist das Verhältnis der Russen zu den Ukrainer sehr speziell und es ist nicht unbedingt anzunehmen, dass gegen die Vetter aus Polen oder die baltischen Staaten genauso vorgegangen wird, wie gegen die Ukraine, solange sie keine russischen Minderheiten diskriminieren (siehe auch Georgien 2008, wo sich Russland schnell wieder zurückgezogen hat)

Kaum bekannt ist auch die Ukrainische Revolution von 1917 bis 1921. In diesen 4 Jahren hat die Herrschaft neunmal gewaltsam gewechselt. Einmal waren die Roten, dann die Weißen, dann die ukrainischen Nationalisten und dann wieder die Roten an der Macht, die sich letztendlich durchgesetzt haben. Die ukrainischen Nationalisten waren ja schon damals sehr antisemitisch und es gab viele Pogrome. Die Ukrainer lebten vor allem auf dem Land und die Städte, vor allem im Westen waren multiethnisch. Die größten Minderheiten in Odessa, Lemberg oder Tschernowitz waren Juden mit knapp 30% Bevölkerungsanteil. Tschernowitz, heute kaum bekannt, war die Hauptstadt der Bokuwina im Habsburger Reich und eine Hochburg der deutschen Literatur. Es gab 4 deutsche Tageszeitungen, die auch in Wien und Berlin gelesen wurden.

 In der Sowjetunion wollte man den Nationalismus überwinden und die Ethnien wurden in den 1920ern zunächst positiv diskriminiert und hatten mehr Rechte als die Russen (z.B. Recht über Souveränität und Unabhängigkeit abzustimmen, was Putin auch kritisiert hat) In den 30 ern gab es aber schon wieder Repressionen und stalinistische Säuberungen, bevor die Deutschen kamen und ebenfalls Massaker wie z.B. dieses anrichteten (https://de.wikipedia.org/wiki/Babyn_Jar) Ich denke man sollte sich dafür auch explizit bei der Ukraine entschuldigen und nicht nur bei Russland?

 Nicht zu vergessen der Holodomor in den 1930 ern, bei dem bis zu 7 Millionen Menschen verhungerten (davon 3,5 Millionen Ukrainer) Der war aber gegen alle Bauern gerichtet und nicht speziell gegen die Ukraine, wie gerne behauptet. Allerdings mussten die Ukrainer die meisten Toten beklagen und nur ukrainische Bauern wurden teilweise daran gehindert in die Städte zu gehen um den Hungerstod zu entkommen.

Während des kalten Kriegs kamen auch viele mächtige Kommunisten aus der Ukraine (Chruschtschow, Breschnew) Dnipro, das frühere Dnjepopetrowsk war eine verbotene Stadt, Kaderschmiede für Moskau (Dnjepopetrowsker Mafia) und Zentrum der Raketentechnologie (rocket city). Auch heute noch scheint es relativ gut geschützt zu sein und taucht gefühlt sehr selten in den Medien in Zusammenhang mit russischen Angriffen auf.

 1990/91 brach dann die Sowjetunion zusammen, weil Boris Jelzin als Präsident der Russischen Sowjetrepublik aus der Sowjetunion austrat, um Gorbatschow zu bekämpfen. Die endgültige Auflösung erfolgte in den Belowescher Vereinbarungen. https://de.wikipedia.org/wiki/Belowescher_Vereinbarungen Leonid Krawtschuk, Präsident der Ukraine hatte sich geweigert eine Vereinbarung zu unterzeichnen, die ihm Boris Jelzin vorgelegt hatte und die vor allem gegen Gorbatschow gerichtet war, nachdem die Ukraine davor schon ihre Unabhängigkeit in einem Referendum beschlossen hatte.

Während man das Ende des Sowjetsystems überall begrüßte, kam der Zerfall der Sowjetunion für alle sehr überraschend und wurde nicht nur von jedem hohen Sowjet bedauert, sondern auch von Helmut Kohl, Francois Mitterrand und George Bush, weil sie befürchteten, dass es bei einem Zerfall zu Unruhen und Konflikten kommen könnte. Auch in der Ukraine wollten viele zwar mehr Autonomie, aber nicht vollkommen raus aus der Sowjetunion und die 18 Millionen Russen, die plötzlich im Ausland lebten fühlten sich als Minderheit in den neuen Staaten. Es ist also nicht der imperalistische Putin alleine, der den Zerfall der Sowjetunion als Tragödie bezeichnet, er trifft damit den Nerv sehr vieler Russen und selbst westliche Staatsmänner haben das damals nicht für gut befunden.

2004 kam es dann zu der Orangenen Revolution und eine Präsidentschaftswahl wurde wiederholt, nachdem Manipulationen bekannt geworden waren.

 2014 dann der Euromaidan, nachdem Janukowitsch aufgrund von Druck aus Russland das Assoziierungsabkommen mit der EU auf Eis gelegt hat, mit den bekannten Folgen. Die Demonstranten kamen aber vor allem aus den westlichen Teilen des Landes, im Osten und im Süden gab es sogar kleine Gegendemonstrationen. Es sickerten die Leute mit dem fremden, russischen Akzent in die Städte ein und wollten die Macht übernehmen. Aber nur in Donezk gab es kaum Widerstand, wenn auch nicht viel Unterstützung und die prorussischen Separatisten konnten sich behaupten. In Charkiv wurden sie z.B. sehr schnell vertrieben, das Lenin Denkmal vom Sockel geholt und wenn man heute aus dem Osten über die Autobahn in die Stadt kommt, wird man von einem blau gelben Fahnenmeer empfangen, damit man sofort weiß, wo man jetzt ist.

Fazit für mich: Eigentlich sollte jeder Nationalismus im 21. Jahrhundert überwunden sein. Also die Russen sollten den Ukrainern endlich ihre Freiheit lassen, aber auch die Ukrainer sollten auf nationalistische Symbole (Bandera Huldigungen) verzichten und ihrerseits Regionen, die eventuell prorussisch sein könnten die Freiheit lassen. 1991 hatten alle Oblasten (sogar die Krim mit 56% für eine unabhängige Ukraine gestimmt) Warum strebt man nicht erneute Volksabstimmungen in den umstrittenen Gebieten unter internationaler Beobachtung an, sondern lehnt Verhandlungen ab und will die Gebiete gewaltsam zurück erobern? Das kann man immer noch machen, wenn Russland sich weigert erneute Referenden abzuhalten, aber bisher hat man dazu Russland meines Wissens nach, noch nicht einmal dazu befragt? Russland hat ein Gebiet, das ehemals unter seiner Kontrolle stand gewaltsam erobert, die Ukraine versucht jetzt im Prinzip das Gleiche auch wenn es noch nicht so lange her ist, dass die Gebiete unter seiner Kontrolle waren und das man mit Russland nach wie vor Vereinbarungen schließen kann, zeigt die zumindest vorläufige Lösung des Konflikts an der Suwalki Lücke am litauischen Korridor nach Kallinigrad und an den Getreideausfuhren in die Türkei.

Über den Autor:
Gernot Schulmeister, geboren in Österreich, seit 2013 in Deutschland, seit 2018 bei den Grünen in Frankfurt, mein Ziel ist herauszufinden, wie man die Überlebensfähigkeit der Menschheit langfristig und nachhaltig aufrecht erhalten kann und dazu beizusteuern, dass das auch umgesetzt werden kann.

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