Ukrainisches Roulette: Neue Drohungen zu Saporischschja

Karl-W. Koch, 11.8.2022

Auch wenn  völlig unstrittig Russland der Aggressor ist und zudem die Besetzung des AWK Saporischschja gegen gültiges Humanitäre Völkerrecht (s.u.) verstößt, dem sich sowohl Russland wie die Ukraine verbindlich unterstellt haben, muss nach dem offenbar von ukrainischer Seite bereits zugestandenem Drohnenangriff auf Saporischschja erneut festgestellt werden, dass den ukrainischen Verantwortlichen entweder die Tragweite ihre Drohungen nicht klar ist oder dass sie bewusst ebenfalls gegen das Humanitäre Völkerrecht verstoßen wollen. Aber auch im 2. Fall „wissen sie vermutlich nicht, was sie tun“, die Folge wäre eine weitgehende Zerstörungen des eignen Landes.


Mehrere Agenturen melden übereinstimmend:

Ukrainischer Atomkonzern droht mit Zerstörung von Stromleitung 

10.08.2022

Die Ukraine hat für den Fall eines Anschlusses des Atomkraftwerks (AKW) Saporischschja an die von Russland annektierte Halbinsel Krim mit einem Kappen der Stromleitungen gedroht. «Ich denke, unsere Streitkräfte werden dazu bereit sein, wenn es nötig ist», sagte der Chef des staatlichen Atomkraftwerksbetreibers Enerhoatom, Petro Kotin, am Mittwoch der Agentur RBK-Ukrajina. Dazu könne es kommen, bevor das Kraftwerk vom ukrainischen Netz getrennt wird.

Kotin zufolge will Russland seit langem das AKW mit der Krim verbinden. «Dafür muss das Kraftwerk komplett vom ukrainischen Energiesystem abgeschaltet und an die Leitung angeschlossen werden, welche die Krim mit dem Wasserkraftwerk Kachowka verbindet», erklärte der 61-Jährige. Kotin sagte auch, dass die ukrainischen Truppen die Stromleitungen beschießen würden, wenn Russland das Atomkraftwerk an sein Netz anschließe. …

https://de.nachrichten.yahoo.com/ukraine-krieg-die-entwicklungen-am-mittwoch-092140521.html


Die Auswirkungen derartiger Aktionen sind ziemlich genau absehbar, wenn die Hintergründe bekannt sind. Da einige Infos fehlen, bleibt nur die Abschätzung. Offenbar wäre zunächst eine vollständige Trennung vom ukrainischen Netz erforderlich (die Russen wollen ja offenbar den Strom nicht teilen, sondern komplett in Richtung Krim umlenken). Daher MUSS zwangsweise eine funktionierende Verbindung mit dem „Südnetz“ (ich unterstelle einmal, dass innerhalb der von Russland besetzten Südregion ein eigenständiges oder getrennt schaltbares Netz existiert, sonst funktioniert das ohnehin nicht. Andernfalls müsste Russland eine neue Leitung vom AKW nach Kachowka bauen, von wo es dann offenbar eine bestehende Leitung zur Krim gibt. Die Strecke beträgt über 200 km. Eine derartige Hochspannungs(!)-Leitung baut Russland – vor allem im Kriegsgebiet nicht in ein paar Tagen) hergestellt werden.

Da die Region russisch besetzt ist, dürfte das kein Problem sein, das Ab- und neue Anschalten auch nicht, das geht in Minuten, wenn die Leitungen „stehen“. Das Problem tritt genau dann ein, wenn die Ukraine diese Leitungen dann – nahe am AKW – zerstört. Das AKW braucht mehrere Tage zum Runterfahren, selbst dann muss die Kühlung der Abklingbecken usw. weiter gewährleistet bleiben.  Da die aktuelle Gefechtslinie relativ nahe ist, sollte die Zerstörung der neuen Leitungen für die ukrainische Armee kein Problem sein, vor allem mit den neuen weitreichenden amerikanischen Raketenwerfern.

In dem Fall bleiben den Besatzern zwei Möglichkeiten:

  1. Sie schalten auf das alte ukrainische Netz zurück, dann wird nicht viel passieren. Unterbrechungen von mehreren Stunden dürften auch in der Ukraine werksintern mit Dieselgeneratoren etc. abdeckbar sein. Ob die russischen Truppen DAS in DIESER Situation machen würde, halte ich für fraglich.
  2. Sie unterlassen das, räumen (und verminen wahrscheinlich) das Gelände und schieben die Schuld für die Folgen dem Beschuss der Leitungen zu. In diesem Fall wird es vermutlich innerhalb weniger Tage (wenn es schlecht läuft innerhalb weniger Stunden) in den laufenden Blöcken zu Kernschmelzen kommen, weil die Kühlung ausfällt. Es folgen durch den freigesetzten Wasserstoff Explosionen und evtl. auch – wie vermutlich in einem Block in Fukushima – kleinere nukleare Verpuffungen. Die Reaktorhüllen werden zerstört, große Mengen Radioaktivität freigesetzt. Der Ablauf wird vermutlich ähnlich wie in Fukushima sein, da aber hier das Meer und die 95% Windrichtung eben auf das Meer hinaus (was Japan seinerzeit gerettet hat) fehlt, wird die Verstrahlung um ein Vielfaches höher sein. Ein Umkreis von 200 bis 500 km wird evakuiert werden müssen, je nach Windrichtung.. Allerdings kann dann auch der in Fukushima verhinderte Super-Super-GAU eintreten, wenn die zu kühlenden alten Brennelemente (und dass sind Hunderte, wenn nicht Tausende von Brennstäben) ebenfalls nicht mehr gekühlt werden. Auch dann kann es zu Schmelzvorgängen kommen, zu Wasserstoff-Freisetzungen und zu Explosionen. Die dann evtl. freigesetzte Radioaktivität wäre ein Vielfaches der durch das AWK-Inventars verursachte.

Eine Zerstörung der Leitung wäre übrigens ebenfalls ein massiver Verstoß gegen das UN-Kriegsrecht, aber wer das eigene AKW mit Drohnen angreift wie offenbar bereits geschehen, hat vermutlich (s. die Drohungen) auch davor keine Hemmungen.

Zitat:

„Das humanitäre Völkerrecht, kodifiziert in den vier Genfer Konventionen und zwei Zusatzprotokollen, dient dem Schutz der Zivilbevölkerung vor den Kriegshandlungen. Zivilisten und zivile Objekt sind von den Kriegshandlungen zu verschonen und zu schützen, so besagt es u.a. das Unterscheidungsgebot als elementares Prinzip des humanitären Völkerrechts (vgl. Art. 51 des 1. Zusatzprotokolls); auch sind kollaterale Schäden an der Zivilbevölkerung nach dem Verhältnismäßigkeitsgrund zu vermeiden.“ …

Atomkraftwerke (stehen) im internationalen bewaffneten Konflikt zwischen zwei Vertragsstaaten unter einen besonderen Schutz in Art. 56 zum „Schutz von Anlagen und Einrichtungen, die gefährliche Kräfte enthalten.

„Wie ist ein Angriff auf ein Atomkraftwerk völkerrechtlich einzuordnen? Den Rechtsrahmen gibt diesbezüglich primär das 1. Zusatzprotokoll vor. Die Russische Föderation und die Ukraine sind jeweils Vertragspartei. Sie haben beide keine Vorbehalte bzgl. Art. 56 des 1. Zusatzprotokolls eingereicht, so dass Art. 56 des 1. Zusatzprotokolls für beide Konfliktparteien Gültigkeit hat.“ (Quelle: https://voelkerrechtsblog.org/de/wie-sind-atomkraftwerke-im-krieg-durch-das-recht-geschutzt/)

Fazit

Die einzige mögliche Reaktion westlicherseits ist die Einwirkung auf die ukrainische Seite, alle Aktionen in dieser Richtung zu unterlassen. Unseren Einfluss auf die russische Seite schätze ich nicht so ein, dass wir dort was bewirken könnten.

Permanentlink zu diesem Beitrag: https://gruene-linke.de/2022/08/10/ukrainisches-roulette-neue-drohungen-zu-saporischschja/

Schreibe einen Kommentar

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.