Gastbeitrag von Ursula Hertel-Lenz, Oktober 2021
1 Es ist erforderlich – und keine verlorene Zeit -, die grundlegenden Fehler des Afghanistan-Einsatzes sowie des „War on Terror“ aufzuarbeiten. Die notwendige Hilfe für bedrohte Menschen darf dadurch aber nicht in den Hintergrund treten.
2 Die militärische Intervention in Afghanistan war von Anfang an falsch und ungeeignet. Die USA hätten stattdessen die Zielsetzung „to bring to justice“ (Resolution 1368 des Sicherheitsrats vom 12. September 2001) verfolgen können. (Ob bzw. inwiefern die Intervention legitim und mit dem Völkerrecht vereinbar war und ob die Anwendung von Artikel 5 des Nato-Vertrages gerechtfertigt war, dies sind davon unabhängige Fragen.)
3 Die Perspektive des „War on Terror“ war von Anfang an falsch. Das wesentliche Ziel, den internationalen Terrorismus zu besiegen, wurde weder in Afghanistan noch anderswo erreicht, im Gegenteil. Die militärische Intervention des Westens wurde in weiten Teilen der muslimischen Welt als Angriff verstanden. In den 20 Jahren seit 2001 entstanden viele neue Terrorgruppen und verübten Anschläge.
4 Im Rahmen des „War on Terror“ hat der Westen seine eigenen Standards in schockierender Weise missachtet (Abu Ghraib, Bagram, Guantánamo…). Dies und der überhastete Abzug aus Afghanistan führte und führt zu einem großen Ansehens- und Vertrauensverlust.
5 Die Frage, was geschehen wäre, wenn die Grüne Partei – und auch Deutschland – die Beteiligung an der Intervention von Anfang an oder in späteren Jahren abgelehnt hätte, muss unabhängig von der o.a. grundlegenden Bewertung diskutiert werden.
6 Die Diskussion über „Eine Weltordnung ohne Hüter: Afghanistan als globale Zäsur“ (Münkler) und allgemein über den Übergang zu einer Weltordnung, in der ein Denken und Handeln in Einflusszonen dominiert und deren zentraler Begriff „Souveränität“ ist, wird aus der Sicht der großen Machtzentren, darunter auch der EU, geführt. Dabei wird die Notwendigkeit verdeutlicht, dass die EU als „großer Akteur“ die Fähigkeit und Bereitschaft zu „Pazifizierungsoperationen“ an ihrer „Peripherie“ haben müsse sowie allgemein die Fähigkeit, einen eigenen politischen Willen zu haben und diesen gegen die anderen großen Machtzentren auch durchzusetzen.
7 Im Unterschied dazu sieht Thomas Seibert von medico international die Welt aus der Perspektive der „Verwüstungszonen“, denen die großen Machtzentren als „Empire“ (Hardt/ Negri) gegenüberstehen. Seibert kritisiert das „Empire“ grundlegend, da Menschenrechte, Demokratie und Kapitalismus im globalen Norden die Zunahme von „Verwüstungszonen“ in anderen Teilen der Welt voraussetzten und da dieser Zustand durch Abschottung und Gewalt aufrecht erhalten werden solle. Er sucht nach einer „Politik jenseits des Empire“ und fragt, wie die Gewalt in Staaten wie Afghanistan, Syrien, Haiti bekämpft werden kann und wie Demokratisierungsprozesse dort unterstützt werden können.
8 Für uns Grüne ergibt sich die Anforderung, in dem hier aufgezeigten Spannungsfeld an unseren Positionen festzuhalten, auch auf dem Hintergrund der von Münkler konstatierten abnehmenden „Wert- und Normorientierung des Westens“: diese werde „zunehmend als Belastung der Außen- und Sicherheitspolitik angesehen und deswegen schrittweise in den Hintergrund gedrängt werden.“
Hintergrund-Texte:
Th. Seibert (Medico International)
Münkler (Politikwissenschaftler)
Vergleich Münkler – Seibert (Hertel-Lenz)
Nov 15 2021
Thesen zur Afghanistan-Diskussion der BAG am 16.10.2021
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