Asyl und Rechtsruck
Die Unabhängige Grüne Linke (UGL) veranstaltete am Wochenende 12.-14. April 2024 in Erfurt eine Tagung zu den Themen Asyl und Rechtsruck.
Unser antifaschistischer Rundgang am Freitagnachmittag führte über das Außengelände und die Umgebung des Gedenkorts Topf & Söhne mit Stationen zur Geschichte der gleichnamigen Erfurter Firma, die im NS-Staat Krematorien und Verbrennungsanlagen herstellte.
Bei der Führung lernten wir, dass sich die Mittäterschaft an der Shoah in diesem Fall weder durch Zwänge der Diktatur noch durch das Profitinteresse (wie beim Monopolisten I.G. Farben) hinreichend erklären ließ. Die Aufträge der Faschisten stellten nur einen Bruchteil des Geschäfts des mittelständischen Unternehmens dar. Eine Schlüsselstellung hatte Ofenbau-Ingenieur Kurt Prüfer. Er entwickelte die Massenverbrennungstechnik zur Beseitigung der Leichen und baute Be- und Entlüftungsanlagen für Gaskammern.
„Stets gern für Sie beschäftigt, …“ heißt es in einem Schreiben, das offenbart, dass man sich nicht als Befehlsempfänger der SS sah. Dieser Halbsatz ziert außerdem das Gebäude, das vom einstigen Fabrikkomplex noch erhalten ist. Somit wurde deutlich, dass es auch in der Diktatur darauf ankam, wie sich der Einzelne in seiner jeweiligen Position entscheidet, mit dem vorhandenen Handlungsspielraum umzugehen.
Am Abend im NaturFreundehaus diskutierten wir mit Tareq Alaows von Pro Asyl und dem Bundestagsabgeordneten Julian Pahlke (Grüne), der aus Berlin zugeschaltet war. Vor dem Hintergrund des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems (GEAS) ging es um die Initiativrolle der Grünen für menschenwürdige Asylgesetzgebung. Moderatorin der Diskussion war unser Orga-Mitglied Sandra Smolka.
„Wir beerdigen ein Stück europäisches Recht“, sagte Julian, der vor seinem Mandat Seenotretter bei Sea Eye war. Den Anspruch auf Prüfung im Asylverfahren bezeichnete er als ein individuelles Recht als Konsequenz aus der Nazizeit. Zur Rolle der Grünen stellte er fest: „Es gibt eine Spirale, der wir hätten vorbeugen müssen. Wir haben die Chance verpasst, die Debatte in eine andere Richtung zu lenken.“
Bei der umstrittenen EU-Asylreform sprach er sich für eine baldige Umsetzung in nationales Recht aus, um diese mitzugestalten, „bevor eine neue Regierung es noch schlimmer macht“.
GEAS lässt sich nicht schönreden
Auch bei Pro Asyl ist Thema, wie die Umsetzung der 300 Seiten Gesetzestext erfolgen soll, bis hin zur einstweiligen Aussetzung, bemerkte Tareq. Es gebe keine positive Erzählung über Flucht und Migration, bedauerte er und kritisierte die gesetzlichen Auflagen. Geflüchtete müssten als Sündenbock für Jahrzehnte gescheiterter Sozialpolitik herhalten. Er sagte hunderte Hotspots wie Moria voraus.
In der Diskussion wurde der Versuch des schnellen In-Arbeit-Bringens und erleichterter Arbeitsmigration nicht als Rechtfertigung anerkannt. Geflüchtete und Arbeitsmigrant*innen werden ausgebeutet für Jobs, die Deutsche nicht machen wollen, Fachkräfte werden abgeworben aus Ländern, die sie selbst dringend brauchen.
Zudem gebe es in Deutschland genug Potenzial. Das Problem wurde in unfairen und unwürdigen Arbeitsbedingungen gesehen.
Gegen Braindrain helfe:
- Nicht abwerben – vor allem nicht aus Krisenländern
- Gute Arbeit, damit wir nicht abwerben müssen
Die Bezahlkarte führe zur Unterscheidung von Menschen mit und ohne Würde, bemerkte eine Teilnehmerin. Die Wirtschaft der Rüstungsexportnation Deutschland diktiere der Politik und spalte die Bevölkerung. Es sei kein Wunder, dass sich die kleine FDP in der Regierung durchsetze. Sie vertrete die größte Partei: das Kapital. Sie fragte – auch mit Blick auf die Intensität der Ausbeutung während des 2. Weltkriegs und die aktuelle Militarisierung: „Was kommt jetzt auf uns zu?“
Dass Geflüchtete zum Sündenbock für politische Versäumnisse gemacht werden: „Warum passiert das gerade jetzt und wer hat daran ein Interesse?“, fragte eine andere und sah Kriege als Ursache dafür, dass Menschen fliehen. In den meisten Fällen sei Deutschland beteiligt.
Am Samstagvormittag diskutierten wir mit Petra Doubek vom Verein MOBIT (Mobile Beratung in Thüringen. Für Demokratie – gegen Rechtsextremismus) die Frage, wie wir der Rechtsentwicklung begegnen können.
Es ging um Strategien der sogenannten Neuen Rechten, die rechtsextreme Ideologie salonfähig zu machen. Als Ersatz für den belasteten Begriff „Rasse“ wird vermeintliche Ungleichwertigkeit mit „Ethnie“ oder „Kultur“ begründet. Die Neuen Rechten schüren Konkurrenzdenken und Ängste und betreiben Geschichtsrevisionismus.
Perfide Täuschungsmanöver
Dabei geht es den Rechten in ihrem „Kampf um die Köpfe“ auch darum, darüber hinwegzutäuschen, dass ihre neoliberale Politik keineswegs die Interessen der großen Mehrheit im Blick hat.
Dass sie sich ausgerechnet auf Antonio Gramsci berufen, löste eine lebhafte Debatte über Umdeutungen aus. Denn dem von Faschisten verfolgten Begründer der Kommunistischen Partei Italiens sei es gerade darum gegangen, dass sich die unterdrückte Mehrheit ihrer eigenen Interessen bewusst wird.
Aus eigener Erfahrung wurde berichtet, wie sich die Art der Abwicklung der volkseigenen Wirtschaft der DDR durch die Treuhand auf die Betroffenen auswirkte. Und wie am Alltag der Menschen orientierte Politik helfen könnte, das Vertrauen in die Demokratie zu stärken.
Nach der Mittagspause ging es um die Einheit von Frieden und Antifaschismus. Der Historiker und Erfurter Stadtvorsitzende der Linkspartei Dr. Steffen Kachel sprach über Antifaschismus und Friedenskampf in Thüringen in historischer Perspektive und leitete über zur aktuellen Situation.
In Thüringen stimmte schon früh fast die Hälfte aller Wähler*innen für die Kanzlerschaft Hitlers. Die organisierte Arbeiterschaft war die einzige größere gesellschaftliche Gruppe, in der die Nazis auf hartnäckigen Widerstand stießen.
Spätestens als deutschlandweit die ersten Hitler-Gegner, zu denen Kommunisten, Gewerkschafter, Sozialdemokraten und andere Vertreter der Arbeiterschaft zählten, in Zuchthäusern und frühen Konzentrationslagern verschwanden, hätten die Anhänger der verschiedenen Richtungen vor der individuellen Frage nach den Konsequenzen aus dem bisherigen Leben und dem Verhältnis zum neuen Regime gestanden.
Trotz offizieller Auflösung der Organisationen wurden Absprachen für weiteren Zusammenhalt getroffen.
Widerstand muss gut organisiert sein
In der SPD-Hochburg Gera sammelte die illegale Leitung der inzwischen verbotenen SPD bei als Familien-Wanderungen getarnten Kampagnen über mehrere Wochenenden den Mitgliederkern ihrer Partei. Es wurden Mittel für Strafverteidigung, Materialbeschaffung, Mietzahlungen und Unterstützungsgelder gesammelt und zur Verfügung gestellt und die Zeitung „Der Marxist“ herausgegeben. Ein Zeitschriftenhandel fand mehr als 1000 Abonnenten.
In Erfurt war die KPD stark, es wurden illegal Bezirks- und Stadtteilleitungen gebildet, Zeitungen gedruckt und Flugblätter verteilt. Auch auf Betriebsebene bildeten sich in verschiedenen Unternehmen, darunter Topf & Söhne, illegale Gruppen. Durch die Verfolgung gewann die Selbststärkung in der Gruppe gegenüber nach außen gerichteten Aktivitäten an Bedeutung. Nach den Niederlagen der Wehrmacht im Osten 1942/43 ging der Widerstand wieder mehr in die Offensive. Die Vernetzung umfasste im Herbst 1943 Gruppen in etwa 50 Thüringer Orten.
Nie wieder Krieg. Nie wieder Faschismus.
Steffen Kachel machte deutlich: Der Kampf gegen die Nazi-Diktatur und gegen den von den Nazis entfesselten Krieg waren für die Akteure im Alltag des Widerstandes aufs engste miteinander verbunden. Der Krieg und seine Erlebnisse erzeugten für sie neue Bündnispartner, da viele, auch früher unpolitische Menschen und selbst Sympathisant*innen der Nazis durch die Erlebnisse des Krieges zu Nazigegnern wurden.
Die Ursachen heutiger Kriege seien komplizierter und es sei schwieriger, eine klare Position zu beziehen, sagte der Historiker. Die demokratischen Kolonialkriege hätten viel mit Kapitalismus und weniger mit Faschismus zu tun.
Dennoch konnte er vom Friedensbündnis Erfurt berichten, das grundsätzlich gegen Krieg und Waffenlieferungen ist und in dem sich etliche Mitglieder der Linkspartei engagieren.
Die Alternative heißt Frieden
Es wurde angemerkt, dass die Region aus DDR-Zeiten noch eher friedensorientiert ist und die Russen weniger als Feinde gesehen werden. In der Diskussion ging es auch um die Frage, warum bei den „Demos gegen Rechts“ das allgegenwärtige Thema Krieg kaum eine Rolle spielt. Dass es mit der „Alternative für Deutschland“ noch schlimmer kommen kann, diene der Behauptung der Alternativlosigkeit des Status Quo.
Steffen Kachel ließ sich von der Idee inspirieren, bei dem anzusetzen, was 1945 in der Charta der Vereinten Nationen die Vision war. Er wünschte sich eine Plattform, auf der sich verschiedene Kräfte finden können, um gemeinsame Ziele zu bestimmen. Er machte klar, dass das rot-rot-grüne Thüringen auch seine Stärken hat, unter anderem in der direkten Demokratie.
Beim Workshop mit Dr. phil. Davide Brocchi (Soziologe und Transformationsforscher) und Franz Florian Krause (Integrationsfachkraft in einem Hamburger Jobcenter) ging es um das „Recht auf Arbeit versus Recht auf Ausbeutung“.
Franz engagiert sich bei Ver.di und als Betriebsrat beim Hamburger Jobcenter, wo er für die Betreuung von über 400 geflüchteten Familien verantwortlich ist. Er ist auch Mitglied im Orga-Team der UGL. Franz wandte sich gegen die „Lüge des Arbeitskräftemangels“. Die offizielle Rate von 6,1 Prozent gemeldeten Arbeitslosen ordnete er ein. Nicht darin enthalten seien geringfügig Beschäftigte (bis 15 Stunden), Menschen, die Kinder (allein) erziehen oder Angehörige pflegen, zwei Termine im Jobcenter nicht wahrgenommen haben, mehr als sechs Wochen krank sind, nicht als arbeitslos oder gar nicht gemeldet sind. 6 bis 8 Millionen Menschen könnten mehr Arbeitsleistung anbieten, sagte er.
700 000 offene Stellen sind gelistet – warum werden sie nicht besetzt?
Es handle sich überwiegend um Helferstellen, Schichtarbeit, Leiharbeit und andere prekäre Beschäftigungen, die oft befristet, unsicher und schlecht bezahlt sind.
Da der Mindestlohn mit 12 Euro zu niedrig ist, lohne sich Arbeit oft nicht. Sanktionierungen und andere Gängelungsmechaniken könnten daran nichts ändern. Zugleich bezeichnete er das Bürgergeld als nicht armutsfest.
Für Geflüchtete fehle es unter anderem an Deutschkursen, der Anerkennung von Berufsabschlüssen und Angeboten zur Weiterbildung.
Ein positiveres Menschenbild
Laut Davide werden wir zu einem negativen Menschenbild erzogen und dazu, Angst zu haben – voreinander und vor dem sozialen Abstieg. Dem Neoliberalismus liegt die Theorie des Homo oeconomicus zugrunde, des „Nutzenmaximierers“. Freie Märkte hätten mit „Freiheit“ wenig zu tun, sie folgten vielmehr dem Gesetz des ökonomisch Stärksten.
In diesem System könne das Recht auf Arbeit ein Recht auf Ausbeutung bedeuten. Die Vollbeschäftigung sei nicht im Interesse der Märkte. Wer Angst vor Arbeitslosigkeit hat, sei eher bereit, Überstunden zu leisten.
Grenzen funktionierten als „Sortiermaschine“ für Migration. Nur wer „nützlich“ ist, Geld und Status hat, ist willkommen. Für Wohlstand und Massenkonsum beuten wir die Ressourcen auch in anderen Ländern aus, zugleich wird den Betroffenen der Zugang zu den Wohlstandsinseln verwehrt.
Das gute Abschneiden skandinavischer Länder beim World Happiness Report (der auf Zahlen der letzten Jahre beruht) zeigt, dass vielen soziale Sicherheit und Solidarität wichtiger ist als eine niedrige Steuerquote.
Thema war auch die ungleiche Vermögensverteilung (Reichtum von 1 Prozent in Deutschland) und dass es auf einem begrenzten Planeten kein unbegrenztes Wachstum geben kann.
Diskutiert wurde, inwieweit innerhalb des bestehenden kapitalistischen Systems Gemeinwohl- und Postwachstumsökonomie, Genossenschaften oder das Bedingungslose Grundeinkommen echte Alternativen darstellen könnten.
Die Würde des Menschen ist unantastbar
Am Sonntag besprachen wir mit Erik Marquardt (MdEP) und Jutta Wieding (Sea Eye e. V.) unser weiteres Vorgehen zum Ausbau des Asylrechts.
An GEAS gab es – wie zu erwarten war – scharfe Kritik.
Wir diskutierten verschiedene Herausforderungen wie Paragraphen und Angriffe gegen Seenotretter*innen und Flüchtlingshelfer*innen, Versuche, Pushbacks zu legalisieren, rechtslastige Debatten um das Asylrecht, Fluchtursachen wie Kriege und massive Sanktionen sowie fragwürdige Abkommen und Abschiebungen in Länder wie Libyen und fragten:
Wie schafft man das Recht, Rechte zu haben? (Hannah Arendt)
Die globale Antwort war: Die Würde aller Menschen ist als internationales Recht verankert. Im Zuge des Niedergangs der westlichen Hegemonie muss ein produktiver Umgang mit dem Multilateralismus gefunden werden.
Orga-Beratungen
Wir sprachen über die Planung einer Veranstaltungsreihe, die relevante Themen vertiefen sollte. Die Vertiefung zielt unter anderem darauf ab, gute Anträge für die nächste BDK (und die nächsten LDKen) zu erarbeiten. Die Kampagne sollte bei den folgenden UGL-Treffen näher skizziert werden.
Mit Frieden (Detlef, Franz, KW, Lene, Sabine, Svenja) und Umverteilung (Anna, Klemens, KW) kristallisierten sich zwei thematische Schwerpunkte heraus, für die sich jeweils ein kleines Team zur Vorbereitung fand. Lene stellte einen ersten Entwurf einer „Friedensvertiefung“ vor, der angenommen wurde.
Daneben ging es um Fragen der Finanzierung und um Details der Verwaltung von Homepage und Listen.
Alle Fotos: © Sabine Hebbelmann