von Renate Wanie, 14.3.2023
Mit welchen Mitteln und Aktivitäten gelingt es sozialen Bewegungen – insbesondere der Friedensbewegung (FB) – in der Gesellschaft politische und kulturelle Hegemonie zu erreichen? Wie kann die FB führend und anhaltend Einfluss auf die öffentliche Meinung in der Zivilgesellschaft und die aktuell auf militärische Aufrüstung ausgerichtete Politik nehmen? Welche Rolle spielt politische Macht, um gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen?
Soziale Bewegungen wollen Veränderung, in der Regel weitgehende strukturelle Veränderungen. Die Klimabewegung kämpft für eine Begrenzung der Erderwärmung und eine Änderung unserer Lebensweise. Die Friedensbewegungen, soweit sie antimilitaristisch sind, wollen Aufrüstung und Militär abschaffen und Kriege beseitigen – Beispiele für Veränderungen, die radikal in den Alltag der Menschen eingreifen, aber auch tief in die wirtschaftlichen und kulturellen Strukturen von Gesellschaften. Für diese Bestrebungen wird in den letzten Jahren der Begriff der „Transformation“ diskutiert. Was ist der Ansatz der Friedensbewegungen, wie lassen sich solche tiefgreifenden Veränderungen bewerkstelligen?
ORT DER KULTURELLEN HEGEMONIE: DIE ZIVILGESELLSCHAFT
Letztlich ging und geht es bei all diesen Bewegungen um die Frage von „Hegemonie“. Welche Vorstellungen, welche Machtkonstellationen bestimmen, was in einer Gesellschaft gedacht und was in einer Gesellschaft gemacht wird. Kulturell, politisch, staatlich, ökonomisch und ganz besonders, was im Bewusstsein der Menschen als normal akzeptiert, aber auch, was als „zu verändern“ gedacht wird. Bei der Frage, welche Bedeutung gesellschaftliche Hegemonie für die sozialen Bewegungen hat, kann es hilfreich sein, sich mit dem Hegemonieverständnis von Antonio Gramsci, italienischer Schriftsteller und marxistischer Philosoph, auseinanderzusetzen – ohne sein Verständnis eins zu eins zu übernehmen.
In dem von Gramsci in den 1920er und 1930er Jahren begründeten Begriffsverständnis sieht er im Staat nicht nur einen starren Repressionsapparat, sondern ein komplexes Herrschaftssystem, das in Wechselwirkung zu den sozialen Verhältnissen in der beherrschten Gesellschaft steht. Die hauptsächliche Quelle der Macht der Herrschenden ist für Gramsci deren Einfluss auf die Kultur und das Denken der Beherrschten und deren Zustimmung. Die Orte der politischen Auseinandersetzung um Hegemonie bezeichnet er als Zivilgesellschaft. Er spricht sich für ein Konzept eines widerständigen und demokratischen Kampfes um ‚kulturelle Hegemonie‘ aus, das von Institutionen, Organisationen oder gesellschaftlichen Gruppierungen bis in Formen der Alltagskultur reiche. (1) In seiner „Philosophie der Praxis“ entwickelte er Vorstellungen, wie der Status Quo überwunden und eine neue Hegemonie angestrebt werden kann. Für alle, die an der Überwindung der „schlechten Verhältnisse“ arbeiten, bietet Gramsci Hinweise auf mögliche praktische Ansätze. Hier soll der Blick auf Aspekte der kulturellen Hegemonie und die Friedensbewegung gerichtet sein.
Wie und mit welchen Mitteln und Aktivitäten nimmt die FB Einfluss auf die öffentliche Meinung? Wie kommt insbesondere die FB zu einer friedenspolitischen Vorrangstellung mit dem Ziel, abzurüsten, Militarisierung zu stoppen und eine zivile und konstruktive, „friedenslogische“ Bearbeitung politischer Konflikte ins Zentrum der Politik zu stellen?
KOMMUNIKATIVES MACHTVERSTÄNDNIS
Dazu ist es u.a. notwendig, das Machtverständnis der FB in den Blick zu nehmen. Um gesellschaftliche Veränderung zu erreichen, spielen neben Druckmitteln aus der Praxis des gewaltfreien Widerstands ebenso die Frage der Machtgewinnung eine Rolle. Grundlage kann hierfür das Machtverständnis der politischen Philosophin Hannah Arendt sein. In Abgrenzung zu dem weitverbreiteten Machtverständnis der Ungleichheit von Max Weber (s. Kasten), beschreibt der Philosoph Jürgen Habermas das Machtverständnis von Hannah Arendt: „Das Grundphänomen der Macht ist nicht die Instrumentalisierung eines fremden Willens für eigene Zwecke, sondern die Formierung eines gemeinsamen Willens in einer auf Verständigung ausgerichteten Kommunikation.“ (2) Hier gibt es eine Nähe zu dem Verständnis von Gramsci, wonach Herrschaft „nicht primär durch die Gewalt ihre Macht konsolidiert, sondern vor allem durch die Produktion zustimmungsfähiger Ideen und die Kontrolle der Kultur“, also über die freiwillige Zustimmung der Vielen, die „Formierung eines gemeinsamen Willens“ herzustellen. (3) Das gilt für die Durchsetzung von Herrschaft „von oben“, aber auch für Bewegungen, die soziale Veränderung „von unten“ anstreben.
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Hannah Arendts Grundgedanke von Macht lautet: „Macht entspricht der menschlichen Fähigkeit, nicht nur zu handeln oder etwas zu tun, sondern sich mit anderen zusammenzuschließen und im Einvernehmen mit ihnen zu handeln.“ Konstitutiv für das Machtverständnis von Arendt als gesellschaftliches Vermögen sind zwei Elemente: das einvernehmliche Zusammenschließen einer Gruppe und die Gemeinsamkeit des Handelns. Macht ist die Fähigkeit, sich in zwangloser Kommunikation auf ein gemeinschaftliches Handeln zu einigen, „die Verständigung derer, die sich beraten, um gemeinschaftlich zu handeln, die Meinung, auf die sich viele öffentlich geeinigt haben“, auf der Basis gemeinsamer Überzeugungen. Macht ist eine Handlungsmöglichkeit, die aus dem Zusammenwirken von Menschen entsteht. Grundlegend: „Über Macht verfügt niemals ein Einzelner; sie ist im Besitz einer Gruppe und bleibt nur so lange existent, als die Gruppe zusammenhält.“ (Arendt, Hannah: Macht und Gewalt. Piper 1975:45) Damit bricht H.A. mit den Traditionen politischen Denkens, das Macht vorwiegend mit Herrschaft und Gewalt verknüpft!
Max Weber definiert Macht als die Möglichkeit, den jeweils eigenen Willen dem Verhalten anderer aufzuzwingen: „Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel, worauf die Chance beruht„– eine weitverbreitete Definition von Macht. Ergänzend präzisierte Weber seine Auffassung von Macht mit Herrschaft: „… die Chance, für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden„. Der oder die ausschließlich am Erfolg orientierte und zweckrational Handelnde muss über Mittel verfügen, mit denen er oder sie ein (entscheidungsfähiges) Subjekt zwingen kann, zuzustimmen – entweder durch Überredung, Ideologie, Androhung von Sanktionen oder schlicht mit dem Einsatz von Gewalt – wie beispielsweise aktuell im Ukraine-Krieg: vom Westen, z. B. mit Sanktionen und von Seiten Russlands mit einem Angriffskrieg. Macht ist letztlich immer ein soziales Verhältnis.
(Weber, Max: Soziologische Grundbegriffe. J.C.B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1975)
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… UND DAS ZUSAMMENWIRKEN IN EINER GRUPPE
Macht ist für Arendt die symbolische Verkörperung der Solidarität einer Gruppe. (4) Ihr Machtverständnis ist dafür eine wesentliche Grundlage. Gewaltfreie Aktionen beruhen immer auch auf Verständigung ausgerichteter Kommunikation. So ist Dialogbereitschaft ein Grundpfeiler gewaltfreien Widerstands in allen Phasen des Konfliktes – mit dem politischen Gegner und allen am Konflikt Beteiligten und dem Ziel, eine aktive, zivile und gewaltfreie Politik erfolgreich umzusetzen. Aktion und Dialog sind Bausteine, um eine Veränderung der öffentlichen Meinung herbeizuführen.
Werfen wir einen Blick auf von Erfolg gekrönte Aktivitäten sozialer Bewegungen. Hier wurden die öffentliche Meinung verändert und letztlich politische Entscheidungen getroffen, die strukturelle Veränderungen bewirkten. Die Beispiele zeigen exemplarisch, wie lohnenswert und ermutigend zugleich kontinuierlich eingesetzte gewaltfreie Aktionen in der Kombination mit gesellschaftlichen Dialogen sind:
· Vielfältige über Jahre fortgesetzte Aktionen der Friedensbewegung in den 1980er Jahren sowie eine breite zivilgesellschaftliche Ablehnung der Raketenstationierung trugen mit zum Abbau aller nuklearen Mittelstreckenraketen in Europa (1987) bei
· Aufruf zum Wirtschaftsboykott (1986) gegen das südafrikanische Apartheid-Regime: In weltweiten Kampagnen wurden Investoren aufgefordert, ihre Gelder aus den wirtschaftlichen Aktivitäten in Südafrika abzuziehen. Das Regime verlor seine Legitimität und brach 1990 zusammen.
· Die Kampagne ICAN (International Campaign to Abolish Nuclear Weapons) hat mit ihrem über Jahrzehnte praktizierten ‚zivilgesellschaftlichen Aktivismus‘ zum völkerrechtlichen Status des Atomwaffenverbotsvertrags beigetragen. Er trat am 21.1.2021 in Kraft.
· Die Anti-AKW-Bewegung trug mit ihrem über viele Jahre anhaltenden Protest wesentlich zu der politischen Entscheidung bei, die Reaktoren von AKWs abzuschalten (2011-2022).
· X-tausendmal quer, das Kampagnen-Netzwerk gegen Atommüll-Transporte (seit 1995) erschwerte mit dem „Schottern“, dem Entfernen der Steine auf den Bahngleisen, den Bahntransport des Atommülls auf dem Weg zum Atommülllager
· Stopp einer Luftfracht-Verladung von Waffen, Munition und Sprengstoff für den Ukrainekrieg durch Verweigerung der Transportarbeiter im März 2022 in Italien, mit Unterstützung durch internationale Hafenarbeiterbewegungen.
· Schulstreiks von Fridays for Future (seit 2018) mit regelmäßigen Freitagsdemonstrationen haben das Pariser Abkommen mit dem Klimaziel von 1,5 Grad in der politischen Öffentlichkeit zum dringlichen Dauerthema gemacht.
· Mit massenhaftem zivilem Ungehorsam fordern Extinction Rebellion politische und gesellschaftliche Institutionen zum sofortigen Umdenken auf (seit 2018) – für eine gerechte ökologische Transformation, die allen Menschen und Arten ein gutes Leben ermöglichen.
Diese Beispiele sind der politischen Praxis europäischer Gesellschaften entnommen, die keine totalitären Systeme im eigentlichen Sinne sind. Wie der viel schwierigere und mit größerem Risiko behaftete zivile Widerstand in autoritären Gesellschaften aussehen könnte, müsste im Rahmen einer erweiterten Betrachtung analysiert werden. (5)
DIE GEWALTFREIE AKTION – EIN KULTURHEGEMONIALES POTENZIAL?
Wie die Beispiele aus der Praxis zeigen, sind gewaltfreie Aktionen und Kampagnen eine kämpferische Methode, gesellschaftliche Konflikte auszutragen, sie greifen aktiv verändernd direkt in eine politische Auseinandersetzung ein. Ihr Ziel ist, gesellschaftliche Konflikte ins Bewusstsein von Politik und Bevölkerung zu rücken und mit vielfältigen Aktionen bearbeitbar zu machen. Letztlich um „von unten“ einen Zugang zu Entscheidungsprozessen durchzusetzen. Dass dabei keine Gewalt eingesetzt wird, bedeutet nicht, dass keine Macht- bzw. Druckmittel eingesetzt werden. Mit gewaltfreien Aktionen erhöhen soziale Bewegungen ihre Wirkmächtigkeit, politische Handlungsräume werden erweitert. Zum Zweck der gewaltlosen direkten Aktion stellte Martin Luther King bereits 1964 fest: „Sie will eine Krise herbeiführen, eine schöpferische Spannung erzeugen, um damit eine Stadt, die sich bisher hartnäckig gegen Verhandlungen gesträubt hat, zu zwingen, sich mit den Problemen auseinander zu setzen. Sie will diese Probleme so dramatisieren, dass man nicht mehr an ihnen vorbei kann.“ (6)
Für diesen Zweck ist das bewährte dreistufige Eskalationsmodell Gewaltfreier Aktion des Friedensforschers Theodor Ebert hilfreich. (7) Die Erfolge gewaltfreier Aktionen beruhen nicht nur auf der Überzeugung der Gegner*innen, sondern auch auf der Ausübung verschiedener Formen sozialen Drucks, die in unterschiedlicher Weise gesellschaftliche Wirkung zeigen und streitbar direkt in das bestehende gesellschaftliche System eingreifen. Nach Ebert lässt sich Gegenmacht durch vielfältige Formen des öffentlichen Protests entwickeln, durch legale Nicht-Zusammenarbeit (Boykott) und illegale Nicht-Zusammenarbeit/zivilen Ungehorsam (Blockaden) – Probleme werden dramatisiert, politischen Gegner*innen die Legitimation entzogen sowie konstruktive Alternativen benannt.
Aktuell fordert der Krieg in der Ukraine dazu heraus, eine kulturelle Hegemonie der Friedensbewegung zu entwickeln – mit partizipativen, konsensorientieren Friedensallianzen, konstruktivem Streiten für eine gemeinsame Auffassung von ziviler Bearbeitung politischer Konflikte sowie mit einer planvollen Strategie zur Umsetzung von eskalierendem, gewaltfreiem Widerstand! Die Macht der Regierenden besteht nur so lange, wie sie von der Bevölkerung kommunikative Zustimmung bekommt!
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Renate Wanie ist Mitglied in der Redaktion des FriedensForums, Vorstandsmitglied des BSV und freie Mitarbeiterin in der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion. Sie ist Erstunterzeichnerin des Appells für den Frieden.
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Anmerkungen
(1) Skrobisz, Nikodem: https://freiheitslexikon.de/kulturelle-hegemonie/.
(2) Habermas, Jürgen: Ziviler Ungehorsam – Testfall für den demokratischen Rechtsstaat. Wider den autoritären Legalismus in der Bundesrepublik. In Glotz, Peter: Ziviler Ungehorsam im Rechtsstaat. Suhrkamp Verlag, 1983, S. 230.
(3) Skrobisz: a.a.O., S. 1.
(4) Arendt, Hannah: Macht und Gewalt, Piper 1975, S. 45.
(5) Vgl. hierzu den Aufsatz Wanie, Renate (2023): Wir füllten öffentliche Plätze und dann die Arrestzellen und Gefängnisse. In: FriedensForum, H. 2 /2023, S.21f.
(6) King, Martin Luther: Freiheit. Brockhaus Taschenbuch Verlag. Wuppertal 1982
(7) Ebert, Theodor: Ziviler Ungehorsam. Waldkirch 1984
Der vorliegende Text stellt eine leicht modifizierte Fassung des Aufsatzes im FriedensForum 6/2022, S.30-32, dar: https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/friedensbewegung-hegemonial-denken-0, entnommen am 12.3.2023.