Offener Brief an Annalena Baerbock

Aufgrund eines Interviews in der Süddeutschen Zeitung (SZ vom 30.11.2020) ergeben sich bei den Unterzeichner*innen eine Reihe von Fragen, welche wir in Form eines Offenen Briefes an Annalena richteten. Mittlerweile – direkt nach der Weihnachtspause – liegt uns eine ausführliche Antwort vor (s. nächster Beitrag):


Liebe Annalena,
Friedenspolitik bzw. der Pazifismus ist einer der Grundpfeiler unserer Bewegung und damit auch unserer Partei.
Mit Erstaunen haben wir daher Deine Einlassungen zum Thema z. B. in der SZ vom 30.11.2020 wahrgenommen:

  1. Zitat zur Frage nach dem 2 %-Ziel: „Wir müssen erst über eine strategische Neuaufstellung sprechen, dann über die Ausgaben. Es muss auch … um die konkrete Lastenverteilung gehen. Ein theoretisches Zwei-Prozent-Ziel hilft da nicht wirklich weiter.“
  2. Zitat zu den Atomwaffen: „Die Obama-Regierung hatte das ja angestoßen: einer Welt ohne Atomwaffen näher zu kommen, indem man Abrüstungsbemühungen stärkt. Und ja, dazu zählt für mich auch der Abzug der US-Atomwaffen aus Deutschland. Auch darüber müssen wir mit unseren Bündnispartnern sprechen. Wir können ja nicht einfach sagen, wir schicken die US-Atomwaffen mal eben zurück in die USA.“
  3. Zitat zu UN-Einsätzen: „Baerbock will Bundeswehr stärken – Grünen-Chefin mahnt europäische `Friedensrolle´an und zeigt sich offen für Militäreinsätze an der Seite Frankreichs.“ Im Artikel schreiben die Redakteur*innen: „(…) Für den Fall einer grünen Regierungsbeteiligung kündigte die Grünen-Chefin Gespräche mit Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an, auch über robuste europäische Militäreinsätze. (…) ‚Einfach wird das nicht. Aber wir dürfen uns nicht wegducken‘, sagte sie.

Wir GRÜNEN sind als Friedenspartei entstanden und sehr große Teile der Basis und noch mehr Wähler*innen haben den Gedanken einer friedlich(er)en Welt noch längst nicht aufgegeben. Daher ist es uns völlig unverständlich, dass Du als Mitglied des Parteivorstandes die Forderung nach mehr Ausgaben für Gewaltanwendung – für uns das letzte, das äußerste Mittel – nicht gleichzeitig mit einem Votum zu gleichberechtigtem Einsatz zur Gewaltvermeidung verbindest.
Zu 1.: Statt mehr für Militär zu fordern, sollten wir Grüne doch zusätzliches Geld für Friedensforschung, zivile Konfliktlösung fordern. Im selben Atemzug muss damit unsere Forderung nach Aufstockung der Entwicklungshilfe
auf 0,7 % des BIP verbunden werden. Dies ist eine Forderung, die wir Grüne sehr lange vertreten. Dieses Ziel wird laut OECD-Kennzahlen von Deutschland deutlich verfehlt!
Auch die Stärkung der UNO hat vor der Erhöhung von Militärkosten Vorrang. Wenn wir vom Recht des Stärkeren hin zur Stärke des Rechts wollen, dann darf es nicht sein, dass allein die Mehrausgaben des deutschen Verteidigungshaushalts 2020 im Vgl. zu 2014 den Jahreshaushalt der UNO einschließlich der Friedensmissionen überschreiten. Im Rahmen der UNO könnten Pandemien/Zoonosen, die Umwelt- und Klimazerstörung bekämpft und den Menschen eine lebenswerte Zukunft gerade in den Konfliktregionen geboten werden. Dies würde weltweit Konflikten vorbeugen und auch Flucht und Vertreibung vermeiden. Unsere Aufgabe ist die Stärkung des Multilateralismus im Rahmen der UNO.
WENN wir eine Etatverschiebung befürworten, wie wäre es mit einer Senkung der Militärausgaben auf 1 % des BIPs bei gleichzeitig einem neuen, zusammengefassten Haushaltsposten für Konfliktforschung, Konfliktbearbeitung, Konfliktlösungsansätze und humanitäre Hilfen im Katastrophen- und Kriegsfall? Warum wird die Unterstützung der Friedensforschung so vernachlässigt? Unser Ziel muss es sein und bleiben, mindestens die gleichen Ausgaben für Friedensforschung und -erhaltung aufzuwenden, wie für Militärausgaben. Das gilt für alle Bereiche, ob für die NATO oder für ein etwaiges EU-Militär. Es ist unabdingbar.
Zu 2.: Auch rückst Du von der Forderung nach einer zügigen Beendigung der „Nuklearen Teilhabe“ ab. Indirekt bedeutet dies, die nukleare Teilhabe läuft weiter wie gehabt bis zum Sankt-Nimmerleinstag. Im neuen Grundsatzprogramm haben wir stattdessen bewusst – mit Eurer Zustimmung – beschlossen: „Der Beitritt Deutschlands zum VN-Atomwaffenverbotsvertrag und die Stärkung des nuklearen Nichtverbreitungsvertrags gehören dazu. Dafür muss gemeinsam mit den internationalen und europäischen Partnern am Ziel eines atomwaffenfreien Europas gearbeitet werden. Dazu braucht es ein Deutschland frei von Atomwaffen und damit ein zügiges Ende der nuklearen Teilhabe. Der Anspruch ist nichts Geringeres als eine atomwaffenfreie Welt.
Der zügige Abzug … Ziel unserer Partei. Dies gilt umso mehr, als nach der Unterzeichnung des Atomwaffenverbotsvertrags durch nunmehr 50 Staaten Atomwaffen ab dem 22. Januar 2021 völkerrechtlich geächtet sind. Vor dieser Forderung der Staatengemeinschaft wird es in Zukunft nicht mehr ausreichen, auf die Interessen von NATO-Partnern zu verweisen. Dies bedeutet für uns bei einer evtl. Regierungsbeteiligung unverzüglich Verhandlungen über den Abzug der US-Atomwaffen bzw. das Ende der „Nuklearen Teilhabe“ aufzunehmen und zu fordern. Auch der Beitritt zum UN-Atomwaffenverbotsvertrag würde das sofortige Ende der „Nuklearen Teilhabe“ nach sich ziehen. Gerade angesichts der neuen atomaren Aufrüstung müssen wir Grünen der überholten Idee, dass Atomwaffen irgendeinen Beitrag zur Deutschen Sicherheitspolitik leisten können eine klare Absage erteilen. Auch Solidarität mit Osteuropa entsteht nicht durch Massenvernichtungswaffen.
Ist der Abzug nicht in Verhandlungen mit den USA zu erreichen, erwarten wir von einer grünen Regierungsbeteiligung, den Abzug der US-Atomraketen eigenständig als Bundesrepublik Deutschland zu verlangen.
Wir können die permanente Drohung eines Atomwaffeneinsatzes mit katastrophalen humanitären Folgen nicht länger legitimieren und mitverantworten.
Zu 3.: Nach unserer Meinung widersprechen Deine Aussagen den gerade beschlossenen Inhalten unseres neuen Grundsatzprogramms. „Bewaffnete Einsätze der Bundeswehr im Ausland sind in ein System gegenseitiger kollektiver Sicherheit, das heißt nicht in verfassungswidrigen Koalitionen der Willigen, sondern in ein politisches Gesamtkonzept, basierend auf dem Grundgesetz und dem Völkerrecht, einzubetten.“ Gemeinsame europäische Militäreinsätze mit Frankreich widersprechen eindeutig unserer Beschlusslage. Sie sind nur mit UN-Mandat zu akzeptieren, denn sonst wäre es ein Militäreinsatz „in einer Koalition der Willigen“, die wir im Grundsatzprogramm ausgeschlossen haben.
Wir, Parteimitglieder und Freund*innen der Partei erwarten vom gewählten Bundesvorstand die getroffenen Beschlüsse der Parteibasis umzusetzen und nicht zu relativieren. Wir erwarten vom BuVo, dass Ihr die Inhalte des GSP vertretet, sie nicht abräumt und friedenspolitisch aus dem Ruder laufen lasst, sondern die Beschlusslage des GSP auch im Wahlprogramm festschreibt. Wir bitten um eine zeitnahe Reaktion und vor allem eine nachvollziehbare Erklärung der Widersprüche.
In der Hoffnung, dass wir mit Dir und dem BuVo zu einem gemeinsamen Konsens noch vor der Verabschiedung unseres Bundestagswahlprogrammes auf der Basis unseres beschlossenen GSP finden, verbleiben wir mit herzlichen Grüßen
Karl-W. Koch, Lothar Winkelhoch, Klemens Griesehop, Simon Lissner, Clara-Sophie Schrader, Ingrid Bäumler, Wolfgang Ehle, Lena Greve, Svenja Horn, Ralph Urban, Ilka Sander-Maas, Hans Schmidt, Andreas Müller, Inga Blum

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1 Kommentar

  1. Eine notwendige Debatte. Wichtig, besonders in einer Zeit, in der man sich um die parteiinterne Demokratie bei den Grünen Gedanken machen muss.

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