Stuttgarter Zeitung vom 08.09.2008
Der grüne Einsatzgegner Winfried Hermann: Nichts wie raus und das sofort ist am Hindukusch die falsche Strategie
Der Grünen-Politiker Winfried Hermann fordert einen Strategiewechsel samt Rückzugsplan für den internationalen Truppeneinsatz in Afghanistan. Im Interview mit Bärbel Krauß erklärt er, warum das nicht
von jetzt auf gleich passieren kann.
Wird Ihnen nicht manchmal langweilig bei der ritualisierten, alle Jahre wiederkehrenden Debatte über den Afghanistaneinsatz?
Ich bin es schon leid, immer wieder zu hören, dass diese Militärintervention für mehr Sicherheit sorgt und dass mehr Kinder, vor allem mehr Mädchen, in die Schule gehen. Auch die Befürworter des Einsatzes müssen langsam erkennen, dass der Zustand in Afghanistan sich seit Jahren verschlechtert. Es werden mehr militärische Mittel eingesetzt, und es gibt mehr Tote. Die Regierung Karsai hat abgewirtschaftet und gilt als korrupt. Der Drogenanbau blüht. Es ist Zeit für einen Strategiewechsel hin zu einem Rückzugsplan. Die afghanische Gesellschaft muss sich darauf einrichten, dass sie in ein bis zwei Jahren selbst für Sicherheit sorgen muss.
Was lösen Meldungen bei Ihnen aus wie von dem Soldaten, der bei einem Bombenattentat gestorben ist, und von den drei Zivilisten, die wahrscheinlich von Bundeswehrsoldaten getötet wurden?
Man kann sich nur zu gut vorstellen, dass jedenfalls manche Familienangehörigen ziviler Opfer Rache gegenüber Deutschland schwören. Dass die deutschen Soldaten mit wachsender Angst auf ihre nächste Patrouille gehen und möglicherweise ebenfalls aus Angst beim nächsten Mal noch schneller schießen. Zum Teil unbeabsichtigt mündet das in eine Spirale der Gewalt.
Glauben Sie, mit ziviler Aufbauhilfe könnte man die Taliban befrieden?
Mittlerweile sind 60 000 Soldaten in Afghanistan. Manche Generäle sagen, wir bräuchten mindestens 200 000, um militärisch erfolgreich zu sein. Ich glaube, das würde nur noch mehr Terror und Anschläge produzieren. Das ist der falsche Weg.
Ihre Position hat sich nicht verändert in den vergangenen sieben Jahren. Sie waren am Anfang gegen den Einsatz in Afghanistan und sind es noch. Wenn Sie zurückblicken: Wo haben Sie dazugelernt?
Ich habe in den Anfangsjahren, als die Isaf-Soldaten ziemlich zivil operiert haben, aufmerksam beobachtet, wie die versuchen, für Stabilität zu sorgen und afghanische Sicherheitskräfte aufzubauen. Es gab zwei bis drei Jahre, als ich mich bei Mandatsverlängerungen im Bundestag deswegen enthalten und nicht gegen den Isaf-Einsatz gestimmt habe. Geirrt habe ich mich insoweit, als ich 2001 dachte, dass deutsche Soldaten binnen ganz kurzer Zeit in kriegerische Handlungen verwickelt sein werden. Das hat sehr viel länger gedauert. Trotzdem bin ich nach wie vor der Meinung, dass man Terrorismus mit polizeilichen Mitteln bekämpfen muss.
Die Gesamtbilanz ist eindeutig: Wir brauchen nicht mehr Militär in Afghanistan, sondern weniger. Peter Strucks Formulierung, dass Deutschland auch am Hindukusch verteidigt werde, ist militärische Sozialromantik.
Jürgen Trittin und Claudia Roth sind gegen einen sofortigen Truppenabzug. Ist das die Mehrheitsposition in der Fraktion?
Wahrscheinlich ja. In der Partei wird sich das nach der Sommerpause zeigen. Klar ist aber, dass bei den Grünen anders als bei den Linken kaum jemand sagt: Nichts wie raus und das sofort. Wir fordern einen verantwortbaren Rückzug. Der muss angekündigt sein, er muss geplant werden, man muss Waffenstillstandsverhandlungen aufnehmen und über zivile Hilfe reden. Internationale und neutrale Truppen müssen noch eine Zeit lang in Afghanistan sein, aber dann müssen Polizeilmaßnahmen greifen.
Demnächst beginnt die Debatte über die Aufstockung des Mandats um tausend Mann und die Entsendung von Awacs-Aufklärungsflugzeugen. Welche Meinung vertreten Sie?
Das ist die Fortsetzung der bisherigen Strategie und deshalb falsch.
Sollte Deutschland allein oder im Bündnis mit anderen Staaten eine Organisation für internationale Polizeimissionen schaffen?
Etwas Ähnliches brauchen wir auf jeden Fall. Es gibt zwei Möglichkeiten: dass die Polizei ihre internationale Einsatzfähigkeit verbessert oder dass Teile der Armee besser qualifiziert werden für Quasipolizeiaufgaben. Ein ausgereiftes Konzept gilt es zu entwickeln. Klar ist, dass es nicht um Polizisten geht, wie sie auf unseren Straßen unterwegs sind. Die müssen robuster ausgestattet sein und dürfen trotzdem nicht wie Militär handeln.