Sollen Bündnisgrüne sich bei allen Atomtransporten querstellen?


1. Zum innergrünen Atomkonflikt

Im öffentlichen Wirbel um bevorstehende Atomtransporte geht leicht unter, dass der angekündigte Widerstand gegen die CASTOR-Frachten in einer tiefen Unzufriedenheit mit der jetzigen Atompolitik seine Gründe hat. Auch wird in der Diskussion um die Legitimität von Protest und Blockaden zu wenig klar, welchen sachlichen Zusammenhang die Transporte mit dieser umstrittenen Politik haben.

Wir wollen deutlich machen, warum auch und gerade Grüne zum Widerstand gegen die Transporte auffordern und sich damit in einen Gegensatz zur Politik der rot-grünen Regierung stellen. Öffentlich in einer zentralen Frage auf Distanz zu einer Regierung zu gehen, an der die eigenen Leute gestaltend mitwirken, ist überhaupt nicht erfreulich und komfortabel.. Wir tun es, weil es starke Gründe dafür gibt.

Adressat der Kritik und Angriffe ist allerdings in erster Linie eine Atomwirtschaft, die zur Sicherung ihrer Renditen das Land und den Kontinent weiterhin zur Geisel ihrer Hochrisikotechnologie macht. Die DemonstrantInnen bei Dannenberg, Stade, La Hague oder Philippsburg stellen sich gegen einen Wirtschaftszweig quer, der allein wegen der unlösbaren Entsorgung mit dem Weiterbetrieb unabsehbare und langfristig wirkende Umweltverbrechen in Kauf nimmt. Es ist ein positives Zeichen, wenn es gegen diese Industrie aus Anlass der Transporte breite Proteste gibt.

Was die Regierungspolitik betrifft, so steckt der Wurm in der verfolgten Konsensstrategie selbst. Es war und ist das politische Credo Gerhard Schröders, Veränderungen nicht gegen die betroffenen Wirtschaftszweige, sondern im Einklang mit ihnen durchzusetzen. Beim Umbau der Landwirtschaft ist das ein sinnvoller Ansatz, allein wegen der letztlichen Interessenidentität von VerbraucherInnen und Landwirten. Beim Umgang mit der Atomwirtschaft ist diese Strategie schon deshalb fragwürdig, weil die Gewinninteressen der Konzerne und die Sicherheitsinteressen der Bevölkerung diametral auseinanderfallen. Und so überrascht es überhaupt nicht, dass die Regierungsgrünen mit dem Brückenschlag zur Atomwirtschaft, den sie im Atomkonsens mitgemacht haben, ihre Brücken in die Anti-Atombewegung praktisch zerstörten. Es darf aber dann ebensowenig überraschen, wenn Mitglieder der Partei der Grünen, die mit der "Atomkraft nein danke"-Bewegung entstanden ist, für sich diese Brücken keineswegs abbrechen und munter weiter gegen die Atommafia kämpfen.

2. Vorteile der Atomkonzerne mit dem Atomkonsens

Mit der atompolitischen Vereinbarung vom Juni 2000 ist das angekündigte Ende der Atomwirtschaft in Deutschland nur scheinbar näher gerückt. Die Zusicherung, Restlaufzeiten für AKWs zu akzeptieren, ist nicht rechtsverbindlich, sie wurde auch bisher nur von den Verhandlungsbeauftragten der Stromkonzerne, nicht den Vorständen, unterschreiben. Die HEW verweigert bis heute selbst diese Unterschrift, andere Konzerne drohen mit der Verweigerung. Verbindliche Schritte in Richtung "Ausstieg" gibt es bisher nicht. Eine Abschaltung von Kraftwerken zeichnet sich konkret nicht ab. In dieser Legislaturperiode wird aller Voraussicht keine Anlage vom Netz gehen. Eine Schließung des KKW Obrigheim, seit 1968 am Netz, wird bisher nicht vorbereitet; selbst die Altanlage Biblis A, die wegen notwendiger Nachrüstungen und wegen bedenklicher Risse im Kühlsystem höchst umstritten ist, steht nicht vor dem "Aus". Einzig für das KKW Stade wurde ein Ende mit 12/2003 angekündigt. Diese Ankündigung hat aber unmittelbar nur zur Folge, dass der Betreiber - e.on - die umfassende Sicherheitsüberprüfung umgeht, zu der er ansonsten ab Jahresende 2000 verpflichtet wäre. So darf diese hochriskante Altanlage, der u.a. ein versprödeter Reaktordruckbehälter nachgesagt wird, in der westlichen Umgebung der Millionenstadt Hamburg unüberprüft weiter laufen.

Dagegen konnte sich die Atomindustrie mit wichtigen Zusicherungen der Regierung deutliche Vorteile verschaffen. Sie hat es jetzt schriftlich, dass die Sicherheitsstandards nicht verschärft werden. Es ist damit praktisch unmöglich, verschärfte Regelungen durchzusetzen. Seit der Atomvereinbarung ist festzustellen, dass Standards im Gegenteil eher gelockert werden. Das KKW Stade müsste in diesem Monat vom Netz, weil das sog. Abklingbecken für Brennelemente voll ist und kein Transportweg derzeit offen ist (Stade will nach La Hague "liefern"). Der niedersächsische Umweltminister will ihm daher - gegen die Regeln der Reaktorsicherheit - eine Ausnahmegenehmigung zum Weiterbetrieb erteilen; das Bundes-Umweltministerium interveniert trotz Aufforderungen nicht. Das KKW Neckarwestheim darf nach Weisung Trittins mehr Uranmaterial als zulässig im Kraftwerk lagern, damit es bis zur Landtagswahl keinen Atomtransport geben muss.

3. Die Konflikte um die standortnahen Zwischenlager

Weit folgenreicher sind die laufenden Genehmigungsverfahren zu Zwischenlagern an 12 Atomkraftwerken. Gegen diese Verfahren formiert sich regelmäßig ein starker lokaler und regionaler Widerstand, der keineswegs nur dem "not-in-my-backyard"-Prinzip folgt. Immer sind am Widerstand AtomkraftgegnerInnen aktiv beteiligt, manchmal - wie am KKW Unterweser - wird der Widerstand von den Grünen im Gebiet getragen - oder von ehemaligen Grünen, die die Partei wegen der Atomfrage verlassen haben. In der Bevölkerung, die sich Rechenschaft über die zusätzlichen atomaren Gefahren ablegt, entwickeln sich Lernprozesse, wie es sie vor Jahren und Jahrzehnten etwa im Wendland, bei Morsleben in der Altmark, um den Schacht Konrad und bei Wackersdorf in der Oberpfalz gegeben hat. Nur richtet sich die atomkritische "Politisierung" jetzt gegen eine von Grünen getragene Regierungslinie ... .

Die durchaus begründete Kritik an den standortnahen Zwischenlagern wird bisher innerhalb der Bündnisgrünen fast überhaupt nicht zur Kenntnis genommen. Für eine unbestimmte Zeit werden neben AKWs neue hochgefährliche Atomanlagen errichtet, die voraussichtlich noch stehen werden, wenn das AKW selbst stillgelegt und abgebaut ist. Meistens sind die Standorte der Lager in dicht bevölkerten Gebieten geplant. Da überhaupt nicht absehbar ist, dass und wie es je ein irgendwie verantwortbares Endlager für hochradioaktive Abfälle geben kann, werden diese Zwischenlager für eventuell unabsehbare Zeit in Betrieb bleiben. Dennoch wird ihre Genehmigung im Eiltempo von der Bundesregierung betrieben, letztlich, um der Atomindustrie aus ihrem akuten Entsorgungsnotstand zu helfen. Rationale Politik wäre, den Weiterbetrieb aller AKWs zumindest so lange zu untersagen, wie kein verantwortbares Endlager feststeht, statt die weitere Produktion von Strahlenmüll ohne Entsorgungsweg zuzulassen. Von rationalem Weitblick gar zeugte es, wenn der Weiterbetrieb gleich endgültig untersagt würde, da kein Wissenschaftler bisher sagen kann, wie irgendeine geologische Erdschicht den Strahlenmüll über 100.000 Jahre von der Biosphäre abschließen können soll.

Die Zwischenlager sind auch aufgrund von Sicherheitsfragen im Schussfeld der Kritik. Spötter nennen sie wegen der Lüftungsschächte "bessere Kartoffelscheunen". Die 1 ½ m dicken Wände und Decken aus Stahlbeton halten Flugzeugabstürzen und Terroranschlägen mit z.B. Panzerraketen nicht stand; dennoch werden das Bundes-Umweltministerium und das Bundesamt für Strahlenschutz die Hallen voraussichtlich so genehmigen. Eine besser abgesicherte Halle käme die Betreiber teurer, der absehbare Konflikt würde den Atomkonsens aufs Spiel setzen, denn die Betreiber werden sich auf die bisherigen Sicherheitsstandards berufen, die mit der Vereinbarung bestätigt seien. Auch werden die Zwischenlager größer ausgelegt als für die Restlaufzeiten - errechnet aus den zulässigen Strommengen im Atomkonsens - erforderlich ist. Ein Schelm, der vermutet, dass die Betreiber mit größeren Lagerhallen die Option auf Änderungen gesetzlich vereinbarter Restlaufzeiten offen halten ... .

4. Warten auf das Atomgesetz

Selbst diese gesetzliche Vereinbarung zu Restlaufzeiten gibt es nicht. Bisher hat das Bundeskabinett keine Novellierung des Atomgesetzes beschlossen, die auf der Linie des Atomkonsenses liegt. Die Atomindustrie hat deutlich gemacht, dass sie "Nachbesserungen" im bisherigen Entwurf des Umweltministers will, die auf weitere Verschlechterungen und Verwässerungen hinauslaufen. Ihre Stellung in der vorbereitenden Gesetzgebung ist ohnehin ein demokratiepolitischer Skandal: Bei der hochbrisanten Atomtechnologie haben die betroffenen Unternehmen durch den Atomkonsens das Privileg erhalten, in einer Arbeitsgruppe am Gesetzentwurf der Regierung mitwirken zu dürfen! Den Verbänden, die keine Geld- sondern Umweltinteressen vertreten, ist dieses Recht versagt.

Unsere Prognose: Entweder kommt es überhaupt nicht zu einem Atom-Ausstiegsgesetz - dann wäre die regierungsgrüne Atompolitik offensichtlich gescheitert; oder der Regierungsentwurf zum Atomgesetz fällt noch hinter die Atomvereinbarung von Juni 2000 zurück - dann neigt sich die Waage noch mehr in Richtung Grüner Misserfolg.

5. Finanzielle Privilegien der Atomwirtschaft

Zu erwähnen bleibt noch, dass die Bundesregierung mit dem Konsens auf zwei wichtige politische Vorstöße zur Atomwirtschaft verzichtet hat. So hat sie sich und die Nachfolgeregierung darauf festgelegt, keine Primärbesteuerung von Kernbrennstoff einzuführen. Damit haben wir weiter die umweltpolitisch absurde Situation, dass zwar Gas mit seiner geringeren Klimawirkung besteuert wird, nicht aber die klimaschädliche Kohle und der hochriskante Brennstoff Uran.

Ein zweiter folgenreicher Rückzug erfolgte bei den steuerfreien Rückstellungen der Atomwirtschaft. Mit der Atomvereinbarung vom Juni 2000 ist ein vielversprechender Vorstoß von Rot/Grün auf halbem Weg stecken geblieben, den wir noch Oscar Lafontaine verdanken. Derzeit hat die Atomwirtschaft rund 70 Mrd. DM an Rückstellungen aufgehäuft, für die sie die Steuerzahlung umgeht. Immerhin ist es mit und nach Lafontaine gelungen, zu erreichen, dass 10 - 16 Mrd. DM dieser Rückstellungen aufgelöst werden und dass die aufgelaufenen Zinsen des zurückgestellten Kapitals über einen Zeitraum von 10 Jahren in die Staatskasse fließen. Auf weitere Schritte hat die Bundesregierung jedoch im Atomkonsens verzichtet.

10 Stadtwerke versuchen gegenwärtig, diese Zusicherung über die Europäische Union zu Fall zu bringen. Denn diese "Kriegskasse" der Atomkonzerne von runden 70 Milliarden ist ein massiver Wettbewerbsvorteil im liberalisierten EU-Strommarkt. Zusammen mit der grünen Europaabgeordneten Hiltrud Breyer hat eine Delegation Grüner Landtagsabgeordneter am 25. Januar beim Wettbewerbskommissar Monti die Einleitung eines Verfahrens gegen Deutschland wegen unzulässiger Beihilfe an die Atomwirtschaft gefordert. Die Abgeordneten fanden bei Monti durchaus "offene Ohren", es ist aber zweifellos eine schwierige Politik, die steuerfreien Rückstellungen gegen die eigene Bundesregierung, statt mit ihr, zu bekämpfen. Dabei ist das Thema für die Zukunft der Atomwirtschaft höchst relevant: eine ganze Reihe von AKWs dürfte unter die Schwelle der Wirtschaftlichkeit gedrückt werden, wenn die Bundesregierung die Betreiber zwänge, sämtliche Rückstellungen aufzulösen. Sie würden die Anlagen von sich aus schließen.

6. Dem Atom-CASTOR die Biberzähne zeigen

Jahrelang waren die Atomtransporte in die Zwischenlager Gorleben und Ahaus der Anlass, um den Protest gegen die Fortsetzung der Atomwirtschaft wirksam öffentlich zu machen. Wer sich bei Dannenberg querlegt, stellt sich damit symbolisch dieser Hochrisikotechnologie in den Weg. Das werden auch dieses Jahr wieder hoffentlich viele Tausend vor allem junge Menschen tun. Warum sollen da ausgerechnet Grüne, die noch länger gegen die Atomwirtschaft kämpfen, abseits stehen? Sollen wir uns im Ernst deshalb fernhalten, weil es den höchst anfechtbaren Atomkonsens zwischen Regierung und einigen Konzernen gibt, einen Konsens, der an der Gesellschaft vorbei geschlossen wurde und von dem bisher nur die Vorteilsregelungen für die Atomwirtschaft beachtet werden, jedoch nichts verwirklicht wurde, was einen Weg Richtung Ausstieg sichtbar werden läßt?

Wer in Gorleben und anderswo demonstriert und an gewaltfreien Sitzblockaden (die im Übrigen laut Bundesverfassungsgerichtsurteil ein legales Mittel des Protestes sind) teilnimmt, tut das gegen die Fortsetzung der Atomwirtschaft in diesem Land. Sie und er kann und sollte das auch dann tun, wenn sie/er den Atomkonsens für richtig hält und Hoffnungen darin setzt, dass mit seiner Verwirklichung ein Ende der Atomwirtschaft eingeläutet wird. Ohne gesellschaftlichen Druck bewegt sich gegen die machtvolle und skrupellose Atomlobby ohnehin nichts.

Es ist auch unsinnig, die verschiedenen Transporte in "gute" und "böse", hinnehmbare und nicht hinnehmbare zu sortieren. Alle Transporte dienen der Atomindustrie beim Umgehen ihrer Entsorgungspflicht.. Die Bundesregierung hat bei dem noch geltenden Atomgesetz überhaupt nicht die Möglichkeit, solche Atomtransporte dauerhaft zu verweigern. Der entsprechende Paragraph im Atomgesetz schreibt eine "gebundene Entscheidung" vor, die dann erteilt werden muss, wenn alle im § aufgezählten Voraussetzungen erfüllt sind. Der Ermessensspielraum ist hier nicht unbegrenzt hinauszögerbar. Drei Jahre Transportestopp waren daher keine schlechte Leistung des Bundesamtes für Strahlenschutz.

Aber warum sollen Grüne AtomgegnerInnen - und das ist hoffentlich weiter Konsens in unserer Partei - wegen gesetzlicher Zwänge eines Bundesamtes die Transporte protestlos hinnehmen? Diese Frage müssen die innerparteilichen BefürworterInnen erst beantworten. Es leuchtet auch nicht ein, den Transport nach Gorleben wegen der nationalen Verantwortung für den Strahlenmüll zu akzeptieren. Den Rücktransport nach Gorleben hat die französische Regierung zur Bedingung gemacht, um weitere Atomladungen in die Wiederaufarbeitungsfabrik La Hague zuzulassen. Wer in Gorleben demonstriert, protestiert auch gegen die Fortsetzung dieses Umweltverbrechens von deutscher Seite in der Normandie. Er/Sie unterstützt damit die französische Anti-Atombewegung, der es berechtigterweise in erster Linie um eine Schließung der Anlage in La Hague geht. Ebenso werden damit die ebenfalls an der Regierung beteiligten französischen Grünen unterstützt, die zu Protesten gegen die Transporte aus La Hague aufrufen.

Nicht vergessen werden darf, dass für dieses Jahr auch CASTOR-Transporte aus Neckarwestheim und einigen anderen AKWs nach Sellafield an der Irischen See genehmigt worden sind. Auch hier wird das Umweltverbrechen der Wiederaufarbeitung weiter gestützt. Darüber hinaus hat sich Sellafield durch falsche Messungen und Dokumentenfälschung bei Kernbrennstoffen disqualifiziert und muss als hoch unzuverlässig gelten.

Stellen wir uns also auch als Grüne quer, wenn die Atomtransporte rollen. Zeigen wir dem AtomCASTOR, dass unsere Biberzähne noch nicht stumpf geworden sind. Und denken wir daran: Die Fracht nach Gorleben ist nur ein Transport. Noch wichtiger und politisch verwundbarer sind die Transporte der Atomindustrie nach La Hague und Sellafield. Grüne AtomkraftgegnerInnen müssen sich im Frühjahr also auch vor Stade, Biblis, Philippsburg, Neckarwestheim und anderswo einfinden.

Wir sehen uns dort!

Atompolitische Opposition bei den Grünen, Stuttgart, 10.März 2001

 

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