14.11.2002
Hartwig Berger (Berlin)
hartwig.berger@t-online.de
Willst du Bäume retten, so verspeise Castoren (Biber)
Französisches Sprichwort
Wie der CASTOR an Freiheitsrechten sägt -
Eine Betrachtung aus aktuellem Anlass
Auch dieses Jahr war der Konflikt um Atomtransporte nach Gorleben ein
politisches Lehrstück, das besonders an einer Partei mit atomkritischen
Traditionen nicht vorbeirauschen sollte. Einen demokratiepolitisch wichtigen
Punkt will ich hier erwähnen. Vorweg aber: es war toll, dass sich
dieses Mal etwa 40 Mitgliedern der Grünen Jugend aktiv am Widerstand
im Wendland beteiligt haben, trotz November, Risiken und polizeilicher
Repression. Das war einfach großartig! Man konnte heuer nicht
sagen, dass Grüne sich aus den atompolitischen Konflikten vor Ort
raushalten, zumal, wie das Beispiel unten zeigt, die Grünen Igel
auch die dunkelsten Seiten des CASTOR-Konflikts durchstehen mussten.
Dazu jetzt:
Nach Angaben der BI Lüchow-Dannenberg wurden beim diesjährigen
Transport fast 1.000 Menschen in mehrstündige polizeiliche Gefangenschaft
genommen, ungefähr 200 waren ungefähr 20 Stunden inhaftiert.
Rein von den Zahlen sieht das nicht schlimmer aus als beim letzten Transport.
Schlimmer ist aber, dass durch Wiederholung dieser Repressionsmaßnahme
die Beschneidung der Freiheits- und Demonstrationsrechte zur Routine
- und offenbar von der Politik hingenommen wird. Sie wird zu einem Gewohnheitsrecht,
das wichtige Grundrechte in der Demokratie unterläuft, wenn nicht
bricht. Gegen die atomkritischen DemonstrantInnen wird immer stärker
eine Vorbeugehaft ausgeübt, mit dem erkennbaren Ziel, sie durch
vollständigen vorübergehenden Freiheitsentzug an der Ausübung
ihres Demonstrationsrechts zu hindern. Dadurch hält sich die Staatsgewalt
möglichen Ärger mit strikt gewaltfreien Aktionen vom Hals,
in der Güterabwägung zwischen bürgerlichen Freiheitsrechten
und dem Anspruch auf freie Fahrt für umstrittene Atomtransporte
entscheidet sie für "freie Fahrt" und klar gegen Freiheitsrechte.
Den offenen Abbau demokratischer Freiheitsrechte erlebt das Wendland
bei jedem neuen CASTOR-Transport vielfältig und über mehrere
Wochen. Zur Veranschaulichung schildere ich das Geschick von etwa 150
DemonstrantInnen am 13./14. 11.:
Etwa 200 CASTOR-GegnerInnen erreichten am 13.11. gegen 13 Uhr die Bahnlinie
bei Hitzacker. Sie setzten sich neben den Schienen nieder, die durch
eine starke Polizeikette gesichert waren. Knapp eine halbe Stunde später
wurden sie vom Bundesgrenzschutz eingekreist und in einen Kessel auf
freiem Feld abgeführt. Wer nicht freiwillig mitkam, wurde schmerzhaft
misshandelt. Eine Aufforderung, den Ort zu verlassen, gab es vorher
nicht. Nachdem der CASTOR-Transport den Ort des Geschehens gegen 16.20
passiert hatte, wurden die Eingekesselten schrittweise in bereitstehende
Fahrzeuge gebracht. In ihnen mussten sie vor Ort und später auf
dem Gelände der Polizeikasernen bei Dannenberg warten stundenlang
warten. Verpflegung gab es die gesamte Zeit über nicht und nur
vereinzelt Wasser. Die letzten Gefangenen wurden gegen 23 Uhr aus den
(unbeheizten) Fahrzeugen geholt. Ihnen wurden bis zu den Schnürsenkeln
sämtliche Gegenstände abgenommen. Für die Nacht gab es
Isomatte und Decke. 110 Männer wurden in einer leeren und kaum
belüfteten Halle unterbracht, die früher als Garage gedient
haben soll. Die Frauen hatten das fragwürdige "Privileg",
teilweise in Einzelzellen zu kommen.
Bis zum Morgen war nur eine Handvoll Inhaftierter der Untersuchungsrichterin
vorgeführt worden. Die Richterin hatte nach eigener Auskunft gegenüber
einem Betroffenen seit 18 Uhr seine Akte angefordert und diese bis 2
Uhr nachts nicht erhalten. Erst um 6 Uhr morgens lag die Akte vor und
konnte die Freilassung im Einzelfall verfügt werden.
Nach Angaben der Polizei soll der CASTOR-Transport am 14.11. kurz nach
7 Uhr das Zwischenlager erreicht haben. Um 7.30 kündigte die Polizei
den Gefangenen in den Kasernen bei Dannenberg an, dass sie nun mit den
Freilassungen beginnen würden, die kurz nach 9 Uhr zu Ende waren.
Es ist politisch alarmierend, dass solche Ereignisse längst kein
Sonderfall sondern Normalfall im Umgang mit Anti-Atomprotesten im Wendland
geworden sind. Sicher trägt in erster Linie der Innenminister von
Niedersachsen die politische Verantwortung für die Einsätze.
Aber immerhin ist die SPD auch Regierungspartei in Berlin. Vor allem
wird man der rot/grünen Bundesregierung eine zumindest indirekte
politische Verantwortung zurechnen müssen, wenn die hier stattfindende
Routinisierung des Abbaus demokratischer Freiheitsrechte - viele andere
Beispiele wären zu nennen - hingenommen wird. Es kann auch Bundestagsabgeordneten,
als Mitgliedern der gesetzgebenden Instanz im Lande, nicht gleichgültig
sein, wenn Demonstrations- und Freiheitsrechte in einer Weise unterlaufen
werden, wie wir das im Wendland (mindestens) einmal jährlich erleben.
Meine Frage: Was unternimmt die Rot-Grüne Koalition, was unternimmt
Grün in der Regierungsbeteiligung, um diese gefährliche innenpolitische
Entwicklung im Umgang mit Anti-Atomprotesten zu stoppen?
Berlin, 15.11. 2002
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