Jürgen Trittin, Bundesminister für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit, 11055 Berlin

Berlin, 17. September 2001

Herrn
Abgeordneten
Hartwig Berger
Abgeordnetenhaus
Niederkirchnerstr. 15
10111 Berlin



Sicherheit von Atomanlagen
Schutz vor Anschlägen mit Flugzeugen

Ihr Schreiben vom 14.09.01



Sehr geehrter Herr Abgeordneter,

Vielen Dank für Ihr Schreiben zu den Folgen der Anschläge in den USA auf die nukleare Sicherheit. Unmittelbar nach dem Angriff auf New York und Washington mit seinen unzähligen Toten wurde innerhalb der Abteilung für Reaktorsicherheit eine rund um die Uhr besetzte Koordinierungsstelle eingerichtet. Die Atomaufsicht in den Ländern wurde auf die Lage hingewiesen und zu einer erhöhten Aufmerksamkeit angehalten.

Zusätzlich wurden Untersuchungsaufträge veranlasst, die klären sollen, welche Konsequenzen aus den hier sichtbar gewordenen Risiken gezogen werden müssen. Diese Überprüfung ist noch nicht abgeschlossen. Die sicherheitstechnischen Konsequenzen werde ich mit der Reaktorsicherheitskommission (RSK) beraten. Einen ersten Bericht der RSK habe ich für Mitte Oktober erbeten.

Kursorisch wurde die Auslegung von Atomanlagen gegen Flugzeugabstürze bewertet. Vorläufig lässt sich hierzu festhalten:

Trotz einer Grundauslegung gegen Flugzeugabstürze sind deutsche Atomkraftwerke, wie alle anderen Atomkraftwerke weltweit, nicht gegen derartige Terrorangriffe, die in ihrer Qualität kriegerischen Angriffen gleichkommen, ausgelegt. Sie sind aufgrund ihrer Konzeption kaum gegen kriegerische Einwirkungen zu schützen. Der Flugzeugangriff ist hier nur eine denkbare Variante eines Angriffs.

Die Befürworter der zivilen Nutzung der Atomenergie gingen bisher von der Vorstellung aus, dass es zu derartigen Angriffen auf Kernkraftwerke praktisch nicht oder jedenfalls nur so selten kommt, dass dieser Fall außer Betracht bleiben kann.

Die Bundesregierung hat deshalb den Entwurf eines Gesetzes zur geordneten Beendigung der Kernenergienutzung zur gewerblichen Erzeugung von Elektrizität beschlossen. Danach soll die weitere Nutzung der Kernenergie zur gewerblichen Stromerzeugung auf Grund der mit ihr verbundenen Risiken trotz des international gesehen hohen Sicherheitsniveaus der deutschen Anlagen nur noch für einen begrenzten Zeitraum hingenommen werden. Mit diesem Gesetzentwurf werden auf der Grundlage der seit Beginn der Nutzung der Kernenergie zur Elektrizitätserzeugung weltweit gewonnenen Erkenntnisse die Risiken der Kernenergie neu bewertet. An der positiven Grundsatzentscheidung des Atomgesetzes aus dem Jahr 1959 zu Gunsten der Kernenergie wird deshalb nicht mehr festgehalten. Die Bundesregierung und die sie tragende Mehrheit im Deutschen Bundestag halten die geordnete und einheitliche Beendigung der Kernenergienutzung zur Elektrizitätserzeugung für erforderlich, um den Schutz von Leben und Gesundheit und anderen wichtigen Gemeinschaftsgütern dauerhaft zu gewährleisten.

Unabhängig davon prüfe ich jedoch zur Zeit, inwieweit einstweilige Stillegungen von Atomkraftwerken bei Vorliegen konkreter Gefährdungslagen das Risiko vermindern können und inwieweit die vorhanden rechtlichen Grundlagen für entsprechende Verfügungen ausreichen.

Neben dem Schutz von laufenden Reaktoren gegen militärische oder quasi militärische Angriffe spielt selbstverständlich auch der Schutz von Atommüll-Zwischenlagern gegen derartige Einwirkungen eine bedeutende Rolle - auch wenn die potentielle Gefährdung durch einen laufenden Reaktor samt der Möglichkeit der Kernschmelze weit höher zu bewerten ist. Es ist allerdings darauf hinzuweisen, dass in der Dezentralisierung solcher Lager ein Mehr an Sicherheit liegt. Die - potentiellen - Ziele sind verteilter und das radioaktive Inventar ist deutliche geringer, als bei einer Konzentration auf zwei Lager in Gorleben und Ahaus.

Ich habe veranlasst, dass die Auslegung gegen Flugzeugabsturz in den laufenden Genehmigungsverfahren für die geplanten dezentralen Zwischenlager unter Berücksichtigung der jüngsten Ereignisse geprüft wird. M.E. sollten - ohne Vorgriff auf das Ergebnis dieser Prüfungen - die technischen Möglichkeiten eines verbesserten Schutzes gegen Flugzeugabstürze, wie in einigen Genehmigungsverfahren bereits beantragt, auch realisiert werden.

Darüber hinaus müssen auch die bestehenden Lager für hochaktive Abfälle durch die zuständigen Behörden und ihre Gutachter überprüft werden.

Die Anfälligkeit moderner Industriegesellschaften gegenüber Terrorismus und kriegerischer Gewalt verbietet notwendig eine Politik der Eskalation. Ich verweise deshalb nachdrücklich auf die Stellungnahme des Parteirats der GRÜNEN, in der es heißt:

"Vor diesem Hintergrund (des mörderischen Anschlages, jt) unterstreichen wir das legitime Recht der USA zur Selbstverteidigung auf der Basis der Charta der Vereinten Nationen. Glaubwürdig ist rechtsstaatliche Demokratie aber nur, wenn sie bei der Ermittlung und Bestrafung der Täter ihre eigenen Prinzipien nicht verletzt. Das Völkerrecht deckt Rache nicht ab; eine davon geprägte Eskalationsstrategie lehnen wir ab. Jedes mögliche Vorgehen muss begleitet werden von einem politischen Konzept, das über den Tag hinausweist und ein Angebot enthält zur wirksamen Behandlung der Konflikte, aus denen sich die Gewalt speist. Wir fordern eine grundsätzliche Neuausrichtung der Sicherheitspolitik. Dabei muss im Vordergrund stehen, wie neuen globalen Bedrohungen durch Krisenprävention, durch zivile Konfliktbearbeitung, durch die Schaffung globaler Gerechtigkeit und die faire Lösung von Regionalkonflikten begegnet werden kann."


Mit freundlichen Grüßen

Jürgen Trittin